Faule Argumente aus der experimentellen Geschichte

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von Martin Kluge

sph-Kontakte Nr. 86 | Dezember 2007

Ein erster Zwischenbericht zu Versuchen rund um das Faulen von Lumpen.

Der leicht ironisch gemeinte Titel will nicht etwa sagen, dass der Autor es sich beim Verfassen leicht gemacht hat. Vielmehr geht es darum, zwei Aspekte in einem Titel zu vereinen: Auf der einen Seite die Untersuchung einer Verfahrenstechnik, die einst einen hohen Stellenwert in der Papierproduktion einnahm, die wir aber heute nur noch aus der Theorie kennen, nämlich das Faulen der Lumpen in den Papiermühlen. Auf der anderen Seite geht es um einen Forschungsansatz, der eigentlich in der Archäologie entwickelt wurde und der sich – aufs Papier bezogen – in idealer Weise für die Basler Papiermühle anbietet. Gemeint ist die experimentelle Geschichte, also das Nachstellen von einstigen Verfahrenstechniken auf originalen oder originalgetreuen Maschinen, um anhand der Resultate offene Fragen der Geschichtsforschung und angrenzender Bereiche zu diskutieren. Um es vorweg zu nehmen, die Versuche, Lumpen wie einst im Faulkeller faulen zu lassen, sind bisher kläglich gescheitert. Mehr dazu aber später.

Mittelalterliche Biotechnologie

Was auf den ersten Blick nach schmuddeligen Versuchen eines exzentrischen Historikers aussieht, ist in Wahrheit ein hochaktuelles Thema. Gerade im Zeitalter der Klimaerwärmung und steigender Energie­kosten sucht die Papierindustrie nach neuen Wegen, die Fasern enzymatisch aufzuschliessen. Mikroorganismen statt mechanische Gewalt lautet das Schlagwort der biotechnologischen Ansätze. Und so gerieten Tätigkeiten, die 200 Jahre in Vergessenheit schlummerten, erneut ins Blickfeld. Heute ist es das Ziel, die langen Polymerketten der Zellulose gezielt und schonend zu kürzen sowie die weiteren pflanzlichen Stoffe, die Hemizellulose und das Lignin (beides zusammen macht rund 50% des Holzes aus) durch Mikroorganismen abbauen zu lassen, um die Zellulosefasern frei zu legen. Je nach Umgebung, ob in einem sauren oder alkalischen Milieu bzw. mit oder ohne Sauerstoff (aerob oder anaerob) gedeihen andere Bakterien und Pilze, deren Enzyme gezielte Arbeit verrichten sollen.

Weniger wissenschaftlich hinterfragt, aber dafür auf langjährige Erfahrung gestützt, gehörte das Faulen früher zu den Tätigkeiten jedes Papiermachers. Auch damals lag das Interesse bei einer energiearmen Vorbehandlung, die das Rohmaterial, die Lumpen, schneller verarbeiten lässt und die Qualität des Endprodukts steigern hilft. Die Erfahrungen der Basler Papiermühle zeigen, dass das Aufbereiten der Fasern den eigentlichen Engpass in der Produktion darstellt. Ein Stampfgeschirr mit 5 Jochen erbringt in rund 20–24 Stunden höchstens eine Leistung von 15 kg gestampften (ungefaulter) Lumpen. Historische Quellen belegen aber bereits für das 16. Jahrhundert einen Bedarf von 50 kg pro Tag und Bütte. Da diese Zahlen offensichtlich nicht aufgehen, kommt der enzymatischen Vorbehandlung durch eine Mazeration eine enorme Bedeutung zu. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wird das Faulen der Lumpen durch chemische Schritte im Kugelkocher ersetzt, oder aufgrund verbesserter Holländer ganz fallengelassen. In den meisten Handbüchern finden wir nur ungenaue – und meist rückblickende Angaben zu diesen Arbeitsschritten. Etwa im Handbuch der Papierfabrikation von Carl Hoffmann von 1891 heisst es spärlich, dass das Faulen bis vor wenigen Jahrzehnten noch üblich gewesen sei, indem die Lumpen «in Haufen abgesondert, in geschlossenen Räumen, meist in Kellern oder Gewölben, sich selbst überlassen [wurden]». Dieses Verfahren würde sechs bis 20 Tage dauern.

Bereits 1777 berichtet Johann Beckmann in der «Anleitung zur Technologie» dass «die meisten teutschen und holländischen Papiermacher jetzt die Lumpen gar nicht faulen lassen, sondern bearbeiten sie desto länger im Geschirr, und es ist wahrscheinlich, dass sie dadurch ein festeres, aber vielleicht nicht das feinste Papier erhalten.»

200 Jahre Vergessenheit liegen also zwischen den Erfahrungen von einst und den Rekonstruktionen von heute. Über die Kniffe, die einst jeder Meister in seinem Keller beherrschen musste, wissen wir heute wenig. Welchen Stellenwert dagegen das Faulen einst hatte, geht aus einem kleinen Zitat aus François de la Lande hervor. Nach ihm ist «das Faul­gewölbe eines der hauptsächlichsten Theile einer Papiermühle. Gemeiniglich beurtheilet man in Auvergne den guten Zustand einer Manufactur aus der Beschaffenheit des Faulungsgewölbes.» Wenn im folgenden versucht wird, diesem Prozess ein wenig auf die Schliche zu kommen, so basiert dies weitestgehend auf zwei Quellen, der «Kunst Papier zu machen» von Joseph Jérôme François de la Lande, übersetzt und herausgegeben von Heinrich Gottlieb von Justi 1762 und dem «Handbuch der Papierfabrikation» von Louis Piette, übersetzt von Carl Friedrich Alexander Hartmann, herausgegeben in Quedlinburg und Leipzig 1833. Zu bedenken ist dabei, dass de la Lande eine mustergültige Grossmanufaktur beschreibt, in der an 30 Bütten je 5‘000 Bogen Papier am Tag geschöpft werden, was mit einem kleinen spätmittelalterlichen Familienbetrieb nicht zu vergleichen ist. Louis Piette ist Papierfabrikant und nur bedingt an der in seiner Zeit bereits überholten Methode der Stoffaufbereitung interessiert. Er ist wohl einer der letzten Zeitzeugen, der einen ausführlicheren Bericht über diesen Arbeitsschritt dokumentiert hat.

Die Arbeitsschritte im Einzelnen

Wie allgemein bekannt, wurden die Lumpen durch Lumpensammler und Lumpensammlerinnen in die Papiermühlen gebracht und dort nach Qualitäten, Material und Farbe sortiert. In Anbetracht der Qualität der bis zum Letzten getragenen und abgenutzten Kleider sind Quarantänevorschriften, die gelegentlich ausgesprochen wurden und Anweisungen, die Lumpen zu allererst in Kalklauge zu waschen, nicht verwunderlich. Die Beigabe von Kalk diente aber nicht nur der Desinfektion, sondern liess die Masse in den alkalischen Bereich kippen, was einen direkten Einfluss auf die Auswahl der sich bildenden Bakterien hatte. Der eigentliche Faulungsprozess, bei dem die Lumpen einer enzymatischen Gärung unterzogen wurden, fand im so genannten Faulkeller statt, der oft aufgrund der Geruchsbelästigung etwas abgelegen, gleichmässig temperiert und genügend feucht sein musste. Auch ist wichtig, dass der Boden das Versickern von Wasser zuliess. Je nach Gegend unterschieden sich verschiedene «Schulen», um die bakteriellen Prozesse während der Faulung zu steuern. Sie sollen hier skizziert werden.

Methode «Faulbütte»

Die sortierten, aber noch ungeschnittenen Lumpen gelangten in die Anfeuchtungsgrube oder «Faulbütte». De la Lande beschreibt einen gemauerten, auf allen Seiten verkitteten Steintrog, dessen Boden aber Wasser versickern lässt. Er sei rund drei mal fünf Meter gross und 90 cm hoch. In dieser Faulbütte blieben die Lumpen 10 Tage eingeweicht liegen, ohne umgerührt zu werden. Durch eine kleine Rinne floss genügend Wasser nach, um den Verlust durch Versickern auszugleichen. Weitere 10 Tage ruhten die Lumpen nun ohne Wasserzufuhr. Nach dieser Prozedur wurden die Lumpen gewendet, indem sie aus der Faulbütte heraus genommen und in einer Kellerecke auf einen Haufen geworfen wurden. Dort erhitzte sich das Innere des Haufen aufgrund der beginnenden Gärung so weit, dass nach rund 15–20 Tage die Hitze für die eintauchende Hand unerträglich geworden war. In diesem Zustand waren die Lumpen reif zur Weiterbearbeitung. Erst jetzt wurden sie in kleine Stücke geschnitten und im Stampfwerk bearbeitet. Durch die Faulung waren die Lumpen bereits so mürbe geworden, dass sie in der Manufaktur von Montargis direkt im Holländer zerfasert werden konnten. Die Gesamtzeit dieses Verfahrens dauerte fünf bis sechs Wochen. Den zitierten Dimensionen nach zu urteilen eignete es sich, um grosse Mengen Lumpen anzusetzen. Wenn man de la Lande glauben schenken darf, müssten in Montargis pro Ansatz über 10 Tonnen Lumpen verarbeitet worden sein.

Darstellung des Sortierens der Lumpen im oberen Stockwerk, und das darunter liegende Faulgewölbe aus der «Kunst Papier zu machen» von de la Lande. Die Lumpen fallen direkt in die Faulbütte, wo sie 10 Tage eingeweicht werden. Rechts vorne ein Haufen Lumpen, der «in Faulung liegt».

Das «Impf-Verfahren»

Hier schienen die Mengen bescheidener zu sein, denn de la Lande beschreibt nur kleine Faulgewölbe von bescheidenen drei auf drei Meter. In diesen wurden in einer Ecke Lumpen aufgetürmt, auf einer Fläche von 1,8 x 1,8 m. Umgerechnet dürfte dies rund 700 kg Lumpen ausmachen. Dieser Haufen wurde rund drei Wochen einer ausgeklügelten Bewässerung augesetzt, ohne dabei gewendet zu werden: über vier bis fünf Tage wurde er stündlich mit Wasser benetzt, «vermittelst eines Wasserbehältnisses, das höher angebracht ist, und das sich vier und zwanzig oder dreissig mal des Tages ausleeret.» Dann standen die Lumpen zwei bis drei Tage trocken, um erneut über einige Tage stündlich benetzt zu werden. Diese Prozedur aus benetzen und ruhen lassen erstreckte sich über 18–20 Tage insgesamt dreimal. Nun entstand in der zweiten Ecke ein weiterer Haufen, der die gleiche Behandlung erfuhr wie der erste. Während das Augenmerk auf dem zweiten Haufen lag, ruhte der erste ohne bewässert zu werden. Waren die 20 Tage um, wurde der erste Haufen auf den zweiten umgeschichtet. Beide zusammen reiften erneut 20 Tage, während ein dritter Haufen dem Bewässerungszyklus unterzogen wurde. Nun war ein vierter Haufen an der Reihe, der wie die anderen auch zuerst mit der Nassphase begann. Gleichzeitig konnte der erste Haufen zur Weiterverarbeitung entnommen werden. Doch seine Bakterien und Pilzkulturen, die sich in den rund 60 Tagen oder 8 ½ Wochen gebildet hatten, wurden an die nachfolgenden Lumpenhaufen weitergegeben. Wie bei einem Hefeteig blieb bei diesem Verfahren ein Teil der Kulturen zurück und impfte den nächsten Ansatz. Diese Methode sei in der Auvergne verwendet worden.

Das «Umsicht-Verfahren»

Dieses Verfahren wird bei de la Lande nur knapp umrissen. «An gewissen Orten», so schrieb er, würde man in den Faulkellern die Haufen in den Ecken faulen lassen, bis sie sich selbst erhitzten. Nähere Angaben über die Zeiträume, verwendeten Mengen oder Grösse des Raums fehlten. Lediglich ist zu erfahren, dass man damit begann, einen Haufen in der ersten Raumecke nass liegen zu lassen, und ihn von Zeit zu Zeit begoss. Wenn sich im Inneren des Haufen eine Gärung bemerkbar machte, wendete man den Haufen in die zweite Ecke, auf die Art, dass nun diejenigen Lumpen, die vorher im Inneren waren, nach aussen kamen. War der Prozess erneut in Gang gekommen, wurde der Haufen in die dritte Raumecke umgeschichtet. Wieder so, dass das Innere nach aussen kam. Nach einer vierten Umschichtung waren die Lumpen reif zur Weiterverarbeitung. Natürlich wartete der Papiermacher nicht mit Nachschub, bis der Haufen die vier Raumecken durchwandert hatte, sondern begann sofort, wenn die erste Ecke wieder frei geworden war, diese mit dem nächsten Haufen zu füllen. Es kam also zu einer Rotation, bei der jeder Haufen die vier Ecken passieren musste.

Das «Deutsche Verfahren»

Im Gegensatz zu den offenen Gärung in Frankreich scheint in Deutschland die anaerobe Faulung in Fässern vorgezogen worden zu sein. De la Lande beschrieb dieses Verfahren nur kurz in einer Fussnote. Er sprach von hölzernen Gefässen, die er «Faulbütten» nannte, ohne Grössenangaben zu machen. Überraschend ist die Zeitangabe, denn er berichtet, dass auf diese Art in nur 8–9 Tagen die Lumpen ihre Reife erhielten, wobei sie nur einmal gewendet werden müssten und «alle weitläufigen Umstände», wie sie beim offenen Faulen entstanden, wegfallen würden. Eine geradezu plakative Beschreibung, was in den Fässern während der Faulung vor sich ging, erhalten wir von Louis Piette im Handbuch von 1833. Aufgrund der Wichtigkeit des Textes sei hier der ganze Abschnitt zitiert.

«Wir wollen nun sehen, was in den (hölzernen, besser aber steinernen) Faulungsgefässen vor sich geht, wenn die Lumpen in denselben der Maceration unterworfen werden. Man weicht sie mit Wasser ein, stampft sie fest und lässt sie die erforderliche Zeit, gut zugedeckt, stehen. Wenn man ein Gefäss mit faulenden weissen Lumpen, z.B. die mit Nr. 3 oder halbfein bezeichnet, täglich untersucht, so bemerkt man folgende Erscheinungen, wobei die innere Temperatur 16 bis 17° R [= 20–21 °C] beträgt:

1. Tag: Des Abends fängt eine geringe Wärme sich zu entwickeln an; wenigstens verschwindet die Kälte des Wassers mit welchem die Lumpen eingeweicht worden sind.

2. Tag: Die eingeweichten Lumpen werden von aussen etwas erwärmt, worauf die innere Wärme weit fühlbarer wird, obgleich man die Hand noch recht gut hineinhalten kann. Man bemerkt noch kein Zeichen der Zersetzung.

3. Tag: Dasselbe wie am vorhergehenden, nur dass die Hitze stärker ist.

4. Tag: Stösst man einen Theil der eingeweichten Lumpen zurück, so entwickelt sich ein sehr entschiedener amoniakalischer Geruch und ein dicker, erstickender Dampf, der die Lumpen und das Gefäss augenblicklich mit Wassertropfen bedeckt.

5. Tag: Aus dem Inneren der eingeweichten Lumpen scheint eine geringe Quantität von einer schleimigen Materie auf die Oberfläche zu kommen. Die Hitze ist für die Hände kaum mehr erträglich; der ekelhafte Geruch ist noch stärker, jedoch sind die Lumpen noch fest und leisten den Händen, wenn man sie zerreissen will, noch starken Widerstand.

6. Tag: Die schleimige Materie wird häufiger; an einigen Stellen der Oberfläche wird sie durch einen weisslichen, fleckigen Schimmel ersetzt.

7. Tag: Diese letztere Substanz ist überall vorherrschend; die Lumpen werden mürbe und zerreissen sehr leicht.

8. Tag: Eine ausserordentliche Menge von Schwämmchen haben fast überall den Schleim und den Schimmel ersetzt.

Lässt man die gefaulten Lumpen in diesem Zustande mahlen, so lässt sich der dann erfolgende Papierstoff leicht bearbeiten. Der Abgang beträgt 18 bis 20 Prozent.»

Kalk für ein jähes Ende

Das oben gezeichnete Bild spricht Bände. Erst wenn der Haufen faulig-schimmlig war, waren die Fasern ausreichend mürbe geworden, um sie weiter zu verarbeiten. Dieser Prozess war verlustreich. Rund 20 % der teuren Lumpen gingen verloren, da ein Teil der Fasern bereits zu stark zersetzt war und im Stampfwerk ausgeschwemmt wurden. War der Faulprozess einmal in Gang gekommen, schritt er immer schneller voran und der Papiermacher tat gut daran, die Faulung streng zu beobachten. Er musste den richtigen Moment erwischen, bevor die Zersetzung soweit fortgeschritten war, dass die Fasern zu klein und zu brüchig geworden waren und beim Stampfen durch das Sieb verloren gingen. Um den Prozess zu stoppen, gab er ungelöschtem Kalk bei. Durch das kurzfristige Anheben des pH-Werts konnten die Mikroorganismen abgetötet werden. Da trotz anschliessendem Auswaschen immer noch Kalkrückstände in der Papiermasse verblieben, hat das so gefertigte Papier einen integ­rierten alkalischen Puffer, der es gegenüber Säureattacken aus Tinten resistenter werden liess.

Martin Kluge mit den im Holzfass eingelegten Lumpen

Experimentelle Geschichte

Doch kehren wir zurück zu dem oben beschriebenen Ansatz, um Licht in die Prozesse im Faulkeller zu bringen. Klar wäre es interessant, mehr über die unterschiedlichen Methoden der Lumpenfaulung zu erfahren und die Vor- und Nachteile im Experi­ment miteinander zu vergleichen. Ob dies allerdings heute noch möglich sein kann, ist sehr zu bezweifeln. Zuerst braucht es die richtigen Lumpen. Reines Leinen ohne Kunststoff­zusätze. Viel problem­atischer sind aber die modernen Waschmittel, die auch bei noch so gründlichem Auswaschen Rückstände hinterlassen. Ein Faulen in den oben beschriebenen Zeiträumen ist mit modern gewaschenen Textilien unmöglich. Die bisherigen Versuche haben gezeigt, dass selbst nach drei Monaten die nassen Lumpen nach Wasch­mittel riechen. Interessant war deshalb die Diskussion anlässlich der Präsentation der bisherigen Ergebnisse bei der SPH-Jahrestagung in Maienfeld. Da sich im Holzfass, in dem 15 kg nach der „deutschen Methode“ bereitete Lumpen seit Anfang Juni behandelt werden, immer noch nichts tut, fragte der Autor die Vereinsmitglieder um Hilfe. Von Schimmelbildung oder einer Erwärmung ist derzeit keine Spur. Ein leichtes Muffeln, das ist alles. Aufgrund der anregenden Diskussion erhalten die Lumpen seither eine spezielle Behandlung, indem Flusswasser statt Leitungswasser genommen wird und die Enzyme, die aufgrund der zu sauberen Lumpen zu verhungern drohen, mit Stärke und Zucker gefüttert werden. Über den Erfolg oder Misserfolg der Versuche wird wohl in den nächsten sph-Kontakten berichtet.

Sauerei oder Erkenntnisgewinn?

Wenn es nicht darum geht, die verschiedenen Methoden miteinander zu vergleichen, worum geht es bei den Versuchen dann? Unsere beiden Zeitzeugen berichten auch über die Einflüsse, die der Faulungsprozess auf die Papierqualität ausübte. Diese Angaben sind eher subjektiv und nur im Experiment objektivierbar. Aus dem Vergleich von Papieren aus gefaulten und ungefaulten Lumpen, die unter gleichen Produktionsbedingungen entstanden und identische Ausgangsmaterialien haben, lässt sich direkt vergleichen, welchen Einfluss das Faulen auf die Papierqualität hatte. Nun, was ist zu erwarten? Joseph Jérôme François de la Lande berichtet, dass die Faulung «das Papier einförmig, milchartig, gelinde macht und demselben das Gewicht giebt». Auch liesse sich die Fasersuspension schlechter verarbeiten, wenn die Lumpen nicht zuvor gefault worden seien. Er schrieb, «der Papierteig schwimmet herum und setzt sich nicht leicht zu Boden. Es ist eine wilde Materie nach der Sprache der Arbeiter.» Was das genau heisst, erfahren wir bei Louis Piette. Die Papiermasse sei «obgleich einem lebhaftern Feuer […] ausgesetzt, lässt sie das Wasser, welches sie enthält, doch weit schwieriger fahren; auf den Formen wirft sie sich auf die Seite und lässt ganze leere Räume auf denselben zurück». Die armen Handpapiermacher der letzten 200 Jahre, die nichts anderes mehr kennen! Der Hinweis, dass das Wasser bei gefaulten Lumpen schneller ablaufe, hat auch einen direkten Einfluss auf den Ertrag. Louis Piette rechnet vor, dass die Bearbeitungszeit im Holländer von 10 oder 12 Stunden auf zwei bis drei Stunden verkürzt werden könne, wenn die Lumpen zuvor gefault wurden. Auch würde sich so die Anzahl der geschöpften Bögen im gleichen Zeitraum verdoppeln, auf 2’500 bis 3’000 Bogen in 12 Stunden pro Bütte. Weitere Vorteile boten gefaulte Lumpen beim Trocknen. Luftgetrocknet würde sich das Papier auf der Leine weniger verziehen und nachher weniger kräuseln. Zudem habe das Faulen direkten Einfluss auf das Gewicht und den Farbton, denn die Papiere würden durch das Faulen schwerer und vergilben. Zwar gab es gute Gründe, auf das Faulen zu verzichten. Man hätte weisseres Papier herstellen können, hätte nicht den schlechten Geruch und die Kosten durch den Verlust beim Faulen wären weggefallen. Doch die Vorteile schienen überwogen zu haben. Wie sich die Veränderungen durch das Faulen im Papier wirklich ausdrücken, sollen nun die Versuche zeigen.