Wasserzeichen: Erfassen – Verstehen – Deuten – Teil I: Zum Informationsgehalt von und Umgang mit Wasserzeichen

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von Martin Kluge

sph-Kontakte Nr. 104 | Juli 2017

Abbildung 1: Beispiele früher Wasserzeichen, Mittelitalien 14. Jh.

In der Basler Papiermühle erhalten wir regelmässig Anfragen zu historischen Papieren. Meist geht es dabei um Wasserzeichen, die in Dokumenten, in Kunstwerken oder in Druckausgaben gefunden wurden und durch deren Identifizierung man sich Aufklärung über die Herkunft oder das Alter besagter Papiere erhofft. Im Gespräch zeigt sich oft schnell, wie wenig über Wasserzeichen als solche bekannt ist und wie wenig über die Art der Informationen, die sich aus ihnen ableiten lassen. Daher sei hier in einem dreiteiligen Aufsatz versucht, einige grundlegende Überlegungen zu Wasserzeichen zusammenzustellen. In diesem ersten Teil geht es um Grundsätzliches zu Wasserzeichen, ihre Bildinhalte und die Möglichkeiten, Papiere mit Hilfe von Wasserzeichen zu datieren. In den folgenden beiden Teilen soll anhand von Beispielen die historische Entwicklung der Wasserzeichen aufgezeigt werden sowie deren jeweilige Aussage in Hinblick auf Sorte, Format, Qualität und Herkunft des Papiers.

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Typisch europäisch

Zuerst einmal muss festgehalten werden, dass Wasserzeichen ein typisch europäisches Phänomen sind. In den ersten 1000 Jahren nach der Erfindung des Papiers und während dessen Verbreitung in Fernost und später im arabisch-persischen Raum waren Wasserzeichen unbekannt. Obwohl bereits in China eine grosse Zahl verschiedener Papiersorten unterschiedlichster Provenienz gehandelt wurde, schien eine Kennzeichnung der Papiere mittels in ihm selbst angebrachter Zeichen nicht notwendig gewesen zu sein. Einzig gewisse Zickzack-Linien, die sich in Papieren des 12./13. Jahrhunderts aus Spanien und dem Magreb beobachten lassen,1 können als eine Art bewusste Markierung gedeutet werden. Umso erstaunlicher ist das vehemente Auftreten von Wasserzeichen kurz nach dem Beginn der europäischen Papierherstellung.2

Bis ins frühe 19. Jahrhundert bleiben Wasserzeichen selbstverständlicher Bestandteil des Papiers, sie befinden sich auf fast jedem Bogen und haben essentielle Aufgaben zu erfüllen: Sie verweisen auf den Hersteller oder kennzeichnen eine bestimmte Papiersorte. An diesen beiden Hauptfunktionen von Wasserzeichen hat sich im Laufe der Jahrhunderte nur wenig geändert. Doch in der Bildsprache und in der Definition dessen, was unter einer bestimmten Papiersorte zu verstehen ist, fand ein kontinuierlicher Wandel statt. Diesen zu verstehen, ist eine wichtige Voraussetzung, um Wasserzeichen richtig einordnen und interpretieren zu können.

Das Zeichenrepertoire der Wasserzeichen

Bereits wenige Jahrzehnte, nachdem sich die spezifisch europäische Papiertechnik mit ihrem festen Sieb herausgebildet hatte, fanden sich in den Papieren Wasserzeichen mit den vielfältigsten Bildmotiven. Das umfangreiche Zeichenrepertoire, dessen man sich bediente, bezog sich in den seltensten Fällen auf Namen der Papiermacher oder an der Produktion beteiligter Personen (im Sinn von sprechenden Zeichen), auch gab es ikonographisch keinen unmittelbaren Bezug zum Papierhandwerk. Stattdessen bedienten sich die Papiermacher anfangs des Zeichenrepertoires städtischer Handwerkskreise: Zunftabzeichen, Patrizierwappen und Handelshäuser.

Im 16./17. Jahrhundert nahm die Motivverwendung von Herrschaftszeichen oder landesherrlichen Attribute wie Krone, Stadt- oder Landeswappen, Doppeladler etc. deutlich zu. Überraschen mag, dass sich aus manch heraldischem Element ein Sortenzeichen entwickelte, so etwa die Fleur-de-Lys, der Baselstab oder das Lothringer Doppel-C, das Zeichen Herzog Karls II. von Lothringen und seiner Frau Claude de France3, und dass damit der heraldische Bezug dieses Zeichens ausser Kraft gesetzt wurde und es unbekümmert und ungeachtet seiner herrschaftlichen Zuordnung in anderen Territorien geführt werden konnte.

Wenn also Wasserzeichenmotive sich verändern, wenn sie zeitgleich mehrere Funktionen erfüllen und wenn sie gar die ursprüngliche Bedeutung der verwendeten Bildzeichen ausser Kraft setzen können, wie funktioniert dann eine Kommunikation mit diesen Zeichen?

Zur Beantwortung dieser Frage sei hier in Anlehnung an die Kommunikationswissenschaft der Versuch unternommen, Wasserzeichen als Sprache im weitesten Sinne zu betrachten, als eine Art Zeichensprache. Demnach dienen Wasserzeichen als Informationskanal zwischen einem «Sender», in unserem Fall der Papiermacher, und einem «Empfänger», dem Käufer oder Nutzer des Papiers. Diese einseitige Kommunikation dient der Weitergabe von Informationen mittels eines bestimmten Codes, der von dem anvisierten Rezipienten decodiert und richtig interpretiert werden soll. Damit diese Kommunikation funktioniert, die Botschaft also ankommt, sind für die Wahl der Zeichen die jeweiligen Konventionen auf Seiten des Empfängers massgeblich – nicht die des Senders. Im Gegensatz zum Sender, dem Papierfabrikanten, ist der Empfänger allerdings weniger präzise zu fassen. Es müssen Personen sein, die unmittelbar mit Papier zu tun haben und mit dem Papierhandel vertraut sind. Dies können Benutzer sein (Schreiber, Drucker oder Leser), aber auch Käufer, Händler oder eine den Papierhandel kontrollierende Behörde. Wir heute, als zeitferne Rezipienten, müssen uns erst einmal darüber im Klaren sein, an welche Rezipienten der Zeichencode gerichtet war, dann können wir uns mit den grundlegenden Konventionen dieser Zielgruppe vertraut machen. Ohne diesen Schritt haben wir beim Decodieren der Zeichen in der Regel grosse Mühe. Ferner ist zu beachten, dass die meisten Zeichen einem kontinuierlichen Bedeutungswandel unterlagen. So entstand beispielsweise das Wasserzeichen «Tannenbaum» als sprechenden Zeichen der Oberen Fichtenmühle4 und etablierte sich bald als lokales Qualitätszeichen, vgl. Abbildung 2. Durch die weitere Verbreitung des Zeichens wandelte es sich zu einem Sortenzeichen, bis es schliesslich im 19. Jahrhundert in ganz Deutschland als Formatangabe verwendet wurde. Diese Transformationen werden in den folgenden Teile dieser Reihe Gegenstand näherer Betrachtungen.

Abbildung 2: Tannenbaum-Wasserzeichen aus er Oberen Mühle in Lohr (D).

Wasserzeichen als Zeichensystem

Eine wichtige Teildisziplin der Kommunikationswissenschaft ist die Semiotik, die Wissenschaft der Zeichensysteme. Als wesentliche Grundlage zur Betrachtung von Zeichen unterschied der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857–1913) bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen dem Bezeichnenden (Signifiant / Signifikant) und dem Bezeichneten (Signifié / Signifikat) als den zwei ‹Seiten› eines Zeichens. In unserem Fall ist der Signifikant das durch einen gebogenen Draht entstandene Motiv des Wasserzeichens, während sich das Signifikat auf dessen Bedeutung, also auf die durch den bildlichen Inhalt hervorgerufenen Vorstellungen bezieht.

In der Semiotik hat sich daraus das semiotische Dreieck als Modell etabliert, welches erstmals von Charles Kay Ogden und Ivor Armstrong Richards 1923 vorgestellt und seither in zahlreichen Varianten und Interpretationen angewendet wurde.5 Will man dieses Schema auf Wasserzeichen übertragen, muss man von dem im Papier durch eine Linie gebildeten Symbol ausgehen, vgl. Abbildung 3. Es ist der historische Befund in seiner materiellen Form. Erst als «Eingeweihte», als mit den Zeichenkonventionen vertraute Beobachter sind wir in der Lage, das sich aus Linien und Kreisen zusammensetzende Symbol mit dem Begriff «Krone» zu identifiziert. Der Begriff wiederum bezieht sich auf einen konkreten Gegenstand, das Bezeichnete. Im Fall von Sprache entsteht beim Wort «Krone» in unserem Kopf das Bild einer konkreten Krone, zusammen mit allen individuellen, spontan verknüpften Begriffsinhalten (Konnotationen), wie «König», «Schloss» oder «Schatzkammer». Bei Zeichen hingegen verweist der Begriff auf gutes Papier, und wahrscheinlich würde niemandem beim Betrachten dieses Wasserzeichens automatisch eine Schatzkammer in den Sinn kommen. Die dem Symbol zugewiesene Bedeutung beruht folglich auf einer doppelten konventionellen Vereinbarung. Einen unmittelbaren Bildzusammenhang zwischen Symbol und Bedeutung gibt es nicht (durch die gestrichelte Linie angezeigt). Anders ausgedrückt sind Wasserzeichen, wenn wir sie als Kommunikationsmittel der Papiermacher verstehen, arbiträre Zeichen, deren Bedeutungen ohne bildinhaltlichen Zusammenhang rein auf Konventionen beruhen. Ist aber die bildinhaltliche Komponente, der abgebildete, mit Konnotationen belegte Gegenstand, für die Interpretation von Wasserzeichen ganz zu vernachlässigen? Und sind Wasserzeichen ausschliesslich auf ihre Bedeutung als Informationsträger zu reduzieren? Diese Fragestellung wurde in der Forschung bisher kaum berücksichtigt. Wie bereits erwähnt, lässt sich für das 16./17. Jahrhundert eine Zunahme heraldischer und landesherrlicher Elemente in Wasserzeichen beobachten, was vermuten lässt, dass durch das gewählte Motiv eine gewisse Wertigkeit im Papier erzeugt wird. Diese Annahme wird durch die Beobachtung unterstützt, dass neben den informationstragenden Elementen im Wasserzeichen spätestens seit dem 17. Jahrhundert weitere Bildelemente einflossen. Zierelemente, wie Rankwerk, Wappenschild und Krone verleihen dem Wasserzeichen eine klar heraldisch geprägte Bildsprache, ohne den Detonationswert des Zeichens zu verändern, vgl. Abbildung 4.

Abbildung 3: Das semiotische Dreieck

Wasserzeichen als Datierungshilfe

Sollen historische Papiere zeitlich eingeordnet und ihre Herkunft näher bestimmt werden, bilden Wasserzeichen mit Abstand die wichtigsten Anhaltspunkte. Die Datierung basiert dabei auf der Annahme, dass die zur Herstellung von Papieren verwendeten Schöpfsiebe nur wenige Jahre in Gebrauch waren und sich während des Gebrauchs veränderten, sich mithin Abnutzungsspuren erkennen lassen. Eine zweite Prämisse solcher Datierungen ist die Unterstellung, dass Papiere bald oder zumindest wenige Jahre nach ihrer Herstellung verwendet wurden (auch wenn eine lange Lagerung prinzipiell nicht auszuschliessen ist). Ausgehend von diesen beiden Annahmen lassen sich undatierte Papiere zeitlich einordnen, sobald ein datiertes Papier vorliegt, das auf dem gleichen Schöpfsieb gefertigt wurde.6 Für eine eindeutige Bestimmung, dass zwei zu vergleichende Papiere von ein und demselben Schöpfsieb stammen, müssen allerdings zahlreiche Daten erhoben werden, die nicht nur das eigentliche Wasserzeichen betreffen, sondern auch den ganzen Papierbogen mit einschliessen. Die Internationale Arbeitsgemeinschaft der Papierhistoriker (IPH) hat bereits 1992 für eine solche Beschreibung eine Internationale Norm für die Erfassung von Papieren mit und ohne Wasserzeichen7 verabschiedet, die es ermöglichen sollte, alle relevanten Aspekte eines Papierbogens zu erfassen und an verschiedenen Orten erhobene Daten miteinander zu vergleichen. Das Erfassen eines Papiers nach diesem Verfahren ist sehr zeitaufwendig und kann nur in einem bescheidenen Umfang vollständig vorgenommen werden. Den meisten heute digital zugänglichen Daten liegt diese Norm nicht zu Grunde. Mit den heute zur Verfügung stehenden Findmitteln ist das Ausfindigmachen eines exakt deckungsgleichen Papiers aus verschiedenen Gründen nach wie vor nahezu unmöglich. Selbst dort, wo für ein bestimmtes Motiv grosse Datenbestände vorliegen, wie bei den 4222 Abzeichnungen von Wasserzeichen mit Ravensburger Türmen mit Beizeichen, die über das Wasserzeichen-Informationssystem online zugänglich sind,8 ist es unwahrscheinlich, ein deckungsgleiches Motiv zu finden.

Abbildung 4: Baselstab (1779) und Lilien-Wasserzeichen (1685). Lediglich der Baselstab und die Lilie sind informationstragend. Alle anderen Bildelemente haben dekorativen Charakter.

In der Praxis erfolgt die Datierung daher nicht anhand von identischen Wasserzeichen, sondern aufgrund eines Vergleichs mit möglichst ähnlichen Motiven, welche allgemeinere Rückschlüsse auf die Entstehung eines Papiers zulassen. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit am Wasserzeichen- Informationssystem WZIS9 zu verstehen, bei der die erfassten Wasserzeichen in möglichst kleingliedrige Motivgruppen eingeteilt werden – weit kleingliedriger, als es die IPH-Norm 1992 vorsah. Als gesicherte Grundlage für eine Datierung gilt dann die Verwendungszeitspanne der gesamten Motivgruppe, vgl. Abbildung 5.

Doch wodurch lässt sich die ikonografische Ähnlichkeit von Wasserzeichen überhaupt bestimmen? Und was, wenn bestimmte Wasserzeichenmotive über einen sehr langen Zeitraum in ähnlicher Weise verwendet wurden? In Abbildung 6 sind zwei Horn-Wasserzeichen zu sehen. Trotz ihrer grossen formalen Ähnlichkeit liegen rund 330 Jahre zwischen ihrer Entstehung! Eignen sich also Wasserzeichen überhaupt als Datierungshilfe für Papier, und welchen Nutzen haben noch so grosse abrufbare Datenbestände, wenn sich in machen Fällen die Motive kaum verändern?

Abbildung 5: Verwendung der Motivgruppe Symbole/ Herrschaftszeichen – Krone – Bügel zweikonturig – frei, ohne Beizeichen – Bügel mit Kreuz (zweikonturig) nach WZIS: Daraus resultiert ein Verwendungszraum von 1527 bis 1534.

Wo stehen wir heute?

Vor über 100 Jahren haben Charles-Moïse Briquet (1839–1918) und mit ihm andere Gründungsväter der Wasserzeichenkunde die ersten Grundlagen für eine systematische Auseinandersetzung mit Wasserzeichen geschaffen, und in der Folge etablierte sich die Wasserzeichenkunde als ein wichtiges Untersuchungsgebiet historischer Papiere. Aus einer anfänglich überschaubaren Auslegeordnung vorgefundener Motive sind im Laufe der Zeit rund fünf Laufmeter gedruckter Findmittel-Kataloge geworden, inzwischen ergänzt durch online abrufbare Datenbanken mit weit über 200 000 Datensätzen. Hinzu kommen historische Studien zur Papiergeschichte einzelner Länder und Regionen, zur Geschichte von Papiermühlen und Papiermachern sowie Untersuchungen zu einzelnen Wasserzeichenmotiven. All diese Erkenntnisse lassen sich wie Puzzlesteine zu einem immer komplexeren Gesamtbild zusammenfügen. Dennoch steckt die Erschliessung des Informationsgehalts von Wasserzeichen auch 100 Jahren nach den Arbeiten von Briquet aufgrund der enormen Materialfülle und der komplexen Thematik in ihren Anfängen.

Abbildung 6: Horn-Wasserzeichen von 1375 und 1704/1706

Anmerkungen

1 Vgl. Peter Tschudin: «Auf Briquets Spuren in Sitten. Die Entstehung des europäischen Papiertyps in Italien in neuem Licht», in: sph-Kontakte 80, S. 6–13.
2 Eine wesentliche Voraussetzung für die Herstellung von Wasserzeichen ist die Verwendung eines festen Siebes, auf dem sich der Wasserzeichendraht aufnähen lässt. Dieses wird erst im 13. Jahrhundert in Italien entwickelt.
3 Hierzu Wisso Weiss: Historische Wasserzeichen, Leipzig 1988, S. 50. Das Doppel-C mit Lothringerkreuz wurde später auf andere Fürsten bezogen.
4 Die Obere Fichtenmühle bei Ansbach (D) wurde bereits 1433 als Papiermühle erwähnt. Ihre Blüte lag im 18. Jahrhundert. Ein kaiserliches Privileg durch Kaiser Joseph II von 1774 erlaubte die Fichte als Wasserzeichen zu führen.
5 Pöhrings, Ralf / Schmitz, Ulrich: Sprache und Sprachwissenschaft. Eine kognitiv orientierte Einführung. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1999, S. 28–31.
6 Dazu Maria Stieglecker: Wasserzeichen und ihre Varianten, in: Ochsenkopf und Meerjungfrau. Papiergeschichte und Wasserzeichen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Begleitheft zur Ausstellung, Stuttgart/Wien 2009, S. 37f.
7 IPH-Norm Version 1.0 (1992), Version 2.0 (1997, online unter www.paperhistory.org/standard.htm), Version 2.1 (2011).
8 WZIS-Motivgruppe Realien – Bauwerke – Turm (mit Zinnen) – Zwei Türme mit Beizeichen, Stand 17.08.2016.
9 www.wasserzeichen-online.de