„Neue Quellen“ zu Ts’ai Lun – Auf der Suche nach dem Erfinder des Papiers
von Martin Kluge
sph-Kontakte Nr. 88 | Dezember 2008
Es ist für einen Autor immer die grösste Genugtuung, wenn seine Erzeugnisse auf Widerhall treffen oder sogar Diskussionen auslösen. In diesem Sinn bin ich stolz und froh, nun Quellen vorstellen zu können, die ich in der letzten Ausgabe der sph-Kontake noch als unzugänglich beschrieben habe. Damals, in dem Artikel „Die Basler haben das Papier erfunden!? Oder wer sagt uns, woher wir wissen, was wir wissen?“ machte ich darauf aufmerksam, dass zur schillernden Erfinderfigur des Papiers, Ts’ai Lun, nur eine einzige ausführliche Quelle vorhanden sei. Unsere Vorstellung von den damaligen Ereignissen basiert vor allem auf dieser einen Quelle. Daneben gibt es ein paar wenige „Randquellen“, die diese Aussagen bestätigen. Dem stimme ich nach wie vor zu. Auch, dass diese ergänzenden Quellen bisher nicht in einer Übersetzung vorlagen. Doch muss ich mein Bild revidieren, die Zeiten haben sich geändert. Musste man noch vor 10 Jahren für die Suche nach diesen Originalquellen eine Chinareise auf sich nehmen, sind die Quellen heute längst im Internet abrufbar. Aber eben leider nur auf chinesisch und in Mandarin. Dank liebenswürdiger Unterstützung kann ich sie nun hier präsentieren. Dazu aber später.
Bevor wir uns auf die Suche nach marginalen Geschichtsquellen begeben, zuerst einmal einen Blick auf das Hauptwerk. Über die Figur Ts’ai Lun und die Erfindung des Papiers im Jahr 105 n. Chr. erfahren wir vor allem aus der offiziellen Reichschronik über die Kaiser der jüngeren Han-Zeit Hou Han Shu (übersetzt «Jüngere Han-Zeit»), verfasst von Fan Yeh, um 450 n. Chr. Das Kapitel 108 gibt sowohl Aufschluss über die Besonderheit der Papiererfindung, wie auch dem Leben Ts’ai Luns. Aufgrund der Wichtigkeit dieser Passage sei sie hier in voller Länge vorgestellt:
Ts’ai Lun, dessen Ehrentitel Ching-Chung ist, stammt aus Kuei Yang. Spät gegen Ende der Yung Ping-Periode trat er in den Dienst des kaiserlichen Hofes. Dann wurde er in der Mitte der Chien Chu-Periode zum Hsiao-Huang-Men ernannt, d. h. zum Hof-Unterbeamten. Als Kaiser Ho Ti den Thron bestieg (89 n. Chr.), wurde er zum Chung Chang-Shih (einem ständigen Beamten) befördert und hatte die Aufgabe, den Kaiser in der Führung der Staatsgeschäfte zu beraten. Lun, der sehr begabt war, viel wusste, ergeben, gewissenhaft und tapfer war, erhob trotz der Strenge des Kaisers mehrmals seine Stimme, um ihn zu veranlassen, verfehlte Verfügungen rückgängig zu machen. An Ruhetagen schloss er öfters seine Tür, weigerte sich, Besucher zu empfangen und entkleidete sich in einem Feld. Später promovierte er zum Shang-Fang-Ling (mit der Herstellung für den Kaiser bestimmten Materials beauftragter Offizier). Im Jahre 9 der [Yung] Yuan-Periode erhielt er den Auftrag, die Fabrikation spezieller Degen und verschiedener Waffen zu beaufsichtigen, die alle aus- gezeichnet, sinnreich, haltbar und genau waren und von den nachkommenden Generationen als Vorlagen verwendet wurden.
In alten Zeiten wurden Bücher und Dokumente im allgemeinen aus zusammengebundenen Bambusbrettchen hergestellt, während das als «chi» bezeichnet wurde, was aus Rohseide verfertigt war. Die Seide war aber teuer, und die Bambusbrettchen waren schwer im Gebrauch. Also waren diese beiden Materia-lien unpraktisch. Ts’ai Lun gab dann den Anstoss dazu, Baumrinde, Hanfstücke, Textilabfälle und Reste von Fischernetzen für die Papierherstellung zu benützen. Im ersten Jahre der Yuang Hsing-Periode berichtete er dem Kaiser davon, und dieser, von der Erfindung begeistert, lobte ihn wegen seiner Tüchtigkeit ganz ausserordentlich. Das Verfahren wurde dann überall eingeführt, und das so hergestellte Papier wurde seither allgemein «Papier [chi] des Grafen Ts’ai» genannt.
Im ersten Jahre der Yuan Chu-Periode wurde Lun auf Grund seiner langjährigen Dienste am kaiserlichen Hof von der Kaiserin der Titel eines Grafen von Lung Ting verliehen. Er nahm die Steuern von 300 Bauernfamilien ein. Dann wurde er zum Tai-Pu (mit der Fabrikation von Prachtkutschen und der Zucht von Lasttieren beauftragter Offizier) im Chang Lo-Bezirk ernannt. Nachdem festgestellt worden war, dass die alten Klassiker allgemein Fehler und nicht sicher zu bereinigende Unterschiede enthielten, bestimmte im Jahre 4 der Kaiser Gelehrte – unter ihnen den Yeh-Che (Chef des Protokolls) Liu Cheng – Doktoren und bekannte Historiker, welche mit dem Auftrag in die kaiserliche Bibliothek geschickt wurden, eine Revision der alten Werke gemäss den verschiedenen Chia Fa (Schulen der Überlieferung) durchzuführen; Lun wurde mit der Beaufsichtigung und Leitung der Arbeiten beauftragt.
Einem mündlichen Befehl der Kaiserin Tou folgend, hatte Lun Madame Song, Grossmutter des Kaisers An Ti, in verleumderischer Art in eine Affäre verwickelt. Nach dem Tode der Kaiserin gelangte An Ti zur Regierung (107 n. Chr.) und befahl Lun, sich vor den Gerichtshof zu begeben. Vor ein Gericht gestellt zu werden, war für Lun zu beschämend, so dass er sich das Leben nahm, indem er Gift trank, nachdem er gebadet, sich angekleidet und einen Hut aufgesetzt hatte. Er zog es vor, selbst das Urteil zu vollstrecken, das der Staat gegen ihn fällen wollte.
Nach der Denkschrift von Hsiang Chou steht noch immer nördlich von Lei Yang Hsien das Haus des Hofbeamten Ts’ai Lun der Han-Dynastie. Westlich vom Haus befindet sich ein Steinmörser, in welchem Ts’ai Lun, wie gesagt wird, die Papiermasse aufbereitete.
Dieser ausführliche Bericht entstand rund 350 Jahre nach der legendären Erfindung des Papiers. Das ist ein beträchtlicher Zeitraum, vor allem wenn es um die politische Interpretation von historischen Ereignissen geht, und erstrecht, wenn diese Ereignisse in einem offiziellen Dokument wie einer Reichschronik zu stehen kommen.
Die erste hier nun erstmals in deutscher Über-setzung präsentierte „neue“ Quelle entstand deutliche näher an dem berühmten Jahr 105 n. Chr. Fast schon ein Zeitzeugenbericht ist das Werk Dong Guan Hanji (oder Tong Kuan Han Chi). Bis in die Tang-Zeit war es die offizielle Geschichtschronik der östlichen Han-Dynastie, bis es durch das Hou Han Shou ersetzt wurde. Seither sind große Teile der ursprünglichen Arbeit verloren. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde es aus erhalten Überresten rekonstruiert. Der Name des Werks Dong Guan Hanji leitet sich ab vom Ostturm (Dong Guan, 东观), des südlichen Palast von Loyang, in dem die kaiserliche Bibliothek und das Archiv unter-gebracht war. Begonnen wurde es 72 n. Chr., als der Ming-Kaiser die Anweisung zur Erstellung einer Geschichte der Regierung seines Vaters Guangwu, der Gründer der östlichen Han-Dynastie, gab. Diese Arbeit umfasste dem Zeitraum 22-57 n. Chr. Schliesslich gab im Jahr 120 n. Chr. die Kaiserin-Witwe Deng Sui (邓绥, 81–121) den Befehl zur Verlängerung der Reichschronik für den Zeitraum 58–106. Und somit just bis zu dem von uns gesuchten Zeitraum! Über Ts’ai Lun und die Erfindung des Papiers heisst es dort:
«Ts’ai Lun, ein niederer Beamter (Huang Men), hat aus Rindenbast, zerrissenen Stoff und alten Fischernetzen Papier hergestellt und dem Kaiser berichtet. Der Kaiser lobte Ts’ai Lun für seine Fähigkeit. Seitdem benutzten alle das Papier, das Ts’ai Lun herstellte, und bezeichnete das Papier als ‹Papier des Fürsten Ts’ais›».
Die Tatsache, dass Ts’ai Lun in dieser Quelle als niederer Beamter beschrieben, im Hou Han Shu hingegen als hoher Beamter und Graf dargestellt wird, ist Thema einer ausführlichen Diskussion für sich, auf die hier verzichtet werden soll.
Etwas kürzer, aber nicht weniger Interessant ist die Quelle Ye Fu Chihaus dem 3. Jahrhundert, verfasst von Tung Pa. Hier der originale Wortlaut:
«In der Osthauptstadt gab es das ‹Meister-Ts’ai-Papier›, d.h. Papier des Ts’ai Luns. Papier aus Leinen heisst Leinen-Papier, solches aus Baumrinde, Gu-Papier, und solches aus Fischernetzen ‹Netz-Papier».
Dieses Zitat wirft neues Licht auf die Bedeutung der von Ts’ai Lun erfundenen Papiere. Demnach ginge es bei der Hervorhebung der Erfindung Ts’ai Luns gar nicht um die Erfindung des allerersten Papiers oder um die Einführung von Papier als Schreibmaterial, sondern vielmehr um eine spezifische Art Papier herzustellen – mit einem spezifischen Ausgangmaterial. Es ist bekannt, dass im alten China Papiere nach Persönlichkeiten benannt wurden. Etwa ein Papier, das nach Xie Gong benannt ist. Xie Gong (Meister Xie) erfand ein Schreibpapier, auf das sich in bequemen Format schreiben liess. Deshalb wird es nach ihm benannt. Ähnlich wird «Meister-Ts’ai-Papier» als eine bestimmte Papiersorte gehandelt, wie aus einem Werk des 14. Jahrhunderts hervorgeht:
«Heute macht man in der ganzen Welt Papier aus Baumrinde. Aber in Shu (Provinz Sichuan) verwendet man allgemein das Verfahren von Ts’ai Lun»
Dieser Satz stammt aus dem Grundriss über die Schreibpapiere aus Shu (Sichuan), dem Shu Jian Pu von Fei Zhao. Besagtes Werk ist aber nicht nur interessant, weil es die oben skizzierte These bestätigt, sondern auch weil wir hier nochmals Details über den Charakter und über die Person Ts’ai Luns erhalten. Leider zeichnet er im Gegensatz zum Hou Han Sho ein wenig charmantes Bild dieser so bekannten Persönlichkeit:
«Ts’ai Lun war Eunuch. In den Biographien werden meist seine Fähigkeiten gepriesen, Unterstützung von Beamten zu erhalten. Es war Gepflogenheit, den Würdenträgern zu schmeicheln, und das war auch die Haltung eines Eunuchen. Er hatte das Zeug dazu, etwas zu erfinden, aber auch dazu, Leute in den Tod zu bringen. Im Schreiben hatte er Fähigkeiten.»
Ich danke Li Lin aus Peking für die Recherche der Textstellen und Hui-Chia Angela Hänggi-Yu aus Nunningen für die deutsche Übersetzung.