Erasmus-Jahr 2016 – Ein Blick zurück auf das, was bleibt

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von Nana Badenberg

sph-Kontakte Nr. 103 | Februar 2017

Abb. 1: Titelblatt des Novum Instrumentum, Basel: Johannes Froben, 1516.

Im Jahr 2016 hat Basel Erasmus, den einst aus Rotterdam zugereisten Gelehrten, geehrt: mit allerlei Ausstellungen (im Historischen, im Kunst- und im Pharmazie- Historischen Museum sowie in der Papiermühle), mit einem Urban Erasmus Trail und auf dem Boden der Stadt verteilten Sentenzen. Am historischen Ort, in der Druckerei Frobens am Totengässlein, konnte gar gedruckt werden ‹wie zu Erasmus Zeiten›. Anlass des ganzen Zaubers um den Denker und seine Drucke war der 500. Jahrestag des Erscheinens ‹seines› Novum Instrumentum, jener auf den griechischen Text zurückgreifenden Ausgabe des Neuen Testaments, die recht eigentlich als Auftakt der Reformation angesehen werden kann.

Was bleibt vom Erasmus- Jahr? – Ganz sicher die verschiedenen Publikationen, darunter ein Kongressband, der die vorbereitende Tagung zum Jubiläum des Novum Instrumentum dokumentiert, und eine Erasmus-Biographie von Christine Christ-von Wedel (erschienen in der schönen reflexe-Reihe des Schwabe Verlags, gesetzt in der hier allerdings weniger schön, denn vielmehr ungefällig breit laufenden Jubiläumsschrifttype von Katharina Wolff). Vor allem hervorgehoben und besprochen sei hier aber der Begleitband zur Ausstellung im Hochchor des Basler Münsters: «Das bessere Bild Christi». Der Titel ist Programm, und zwar genau genommen jenes bereits des Erasmus, denn der Gelehrte, dessen Bildnis als Schreibender auch den Einband des Katalogs ziert, verstand das Studium des Neuen Testament als beste Möglichkeit, sich ein Bild Christi bzw. des christlichen Glaubens zu machen. Nicht wie das Bild äusserlich bliebe es, sondern mit dem Wort könne man das Geheimnis des Kreuzes in sich tragen. Erasmus’ Plädoyer, auch und gerade die Schriften über das Leben Christi an den Quellen zu studieren, liess ihn in Kritik an dem in der Vulgata tradierten lateinischen Text auf die griechische Fassung zurückgreifen, die bis dahin nur in handschriftlichen Überlieferungen vorlag. Die in lediglich sechs Monaten Anfang März 1516 fertiggestellte Ausgabe des Novum Instrumentum war die erste von fünf, jeweils ergänzten, korrigierten und neu kommentierten Editionen, für die Erasmus zu Lebzeiten verantwortlich zeichnete. Eine jede auf der vorhergehenden aufbauend und anwachsend, was die Überarbeitung des Textes und den Umfang der Annotationen anbelangt.

Die Universitätsbibliothek Basel verfügt nicht zuletzt durch ihre auf Bonifacius Amerbach zurückgehenden Bestände über entscheidende Dokumente aus dem Nachlass des Erasmus, und so ist es möglich, die Edition(en) in vielen Einzelheiten nachzuvollziehen: Erasmus‘ langjährige Beschäftigung mit dem Thema, die verschiedenen Arbeitsphasen und Überarbeitungen, die als Vorlagen verwendeten Handschriften des griechischen Textes und natürlich die Zusammenarbeit in der Druckerei, denn in der Werkstatt Frobens koopertierte Erasmus eng mit Nikolaus Gerbel und Johannes Oekolampad (sie waren mehr noch als blosse Correctores, wurden von Erasmus selbst als Castigatores bezeichnet, also fast schon als Mitherausgeber), und er lieferte parallel zu den dem Setzer vermutlich oft à l’heure diktierten (!) Texten die Vorlagen für die von ihm betreuten Brief-Bände der grossen Hieronymus-Ausgabe. Ein gewaltiges Arbeitspensum, und, so liess man verlauten: «es brummte die gewaltige Werkstatt». Während der Arbeit am Lukas-Evangelium war Erasmus sogar krank, sodass er sie unterbrechen musste. Oekolampad jedoch berichtete emphatisch über die Tätigkeit des Erasmus: «Es war für mich ein bewundernswertes Schauspiel, vielmehr ein sehenswertes Wunder, ihm zuzusehen, wie er diktierte und korrigierte, so viel drei Druckpressen aufnehmen konnten, und wie er trotzdem daneben griechische und lateinische Handschriften, und zwar verschiedenster Art und von hohem Alter, einsah, griechische und lateinische Übersetzer verglich, alte und neue, und Schriftsteller der ersten und auch untersten Klasse rezipierte. Deshalb hat er nicht nur den Sinn offengelegt […], sondern hat sich um die kleinsten Wörtchen gekümmert und sogar um die Artikel und die winzigsten Akzente.» (zit. S. 78)

Abb. 2: Novum Iesu Christi D. N. Testamentum cum duplici interpretatione D. Erasmi et veteris interpretis, harmonia item evangelica et copioso indice. Genf: Robert Estienne, 1551, 2 Bde. Erste Bibel mit der heute noch gültigen Verseinteilung; hier eine Seite aus dem Johannesevangelium im zweiten Band.

Erasmus war nicht der Erste, der textkritisch auf eine Revision der auf die Zeit des Kirchenvaters Hieronymus zurückgehenden Vulgata sann – er selbst kannte Lorenzo Vallas Annotationes und den französischen Humanisten Jacques Lefèvre d’Etaples (auch sie werden anhand ihrer Schriften vorgestellt) –, doch hatte gerade seine Ausgabe des Novum Instrumentum katalysierende Wirkung. Das mag zum einen an der vorgelegten Edition liegen, die erstmals den griechischen Text und in parallelen Spalten dazu die revidierte lateinische Übersetzung des Erasmus druckte; seine Annotationes wurden im Anschluss daran einspaltig und en bloc gedruckt. Zum anderen dürfte es damit zusammenhängen, dass Erasmus als ‹Starintellektueller› mit seiner Textkritik den Nerv der Zeit traf – und dann im Zuge der Reformation zunehmend zwischen die Fronten geriet. Sein Novum Instrumentum wurde, so Ueli Dill, der auch die vielfältigen Kontroversen, die sich daran anschlossen, luzide nachzeichnet, zu einer «Blaupause für die Reformation» (168).

Erasmus, der selbst der römischen Kirche treu blieb bzw. sich nicht zu einem Bruch mit ihr überwinden konnte (denn treu blieb er vor allem sich selbst) und der gegenüber Luther, der ihn als «nicht fromm» bezichtigte, auf dem freien Willen des Menschen beharrte, verteidigte seine Übersetzung in vielerlei Rechtfertigungsschriften, verfasste «Argumente gegen Pedanten und Ungebildete» (seine Gegner waren in erster Linie Universitätstheologen und Mönche). Zugleich jedoch verschärfte er seine philologische Position von Ausgabe zu Ausgabe, zunehmend auch an heiklen Stellen. Das Novum Instrumentum von 1516 trug bereits ein «neues Wort» im Titel, auch wenn sich Erasmus bei dieser Übersetzung (wie oft) auf die Kirchenväter berufen konnte. In den späteren Ausgaben, die dann als Novum Testamentum erschienen, nahm er diese Korrektur des Titels zurück; doch schon in der Edition von 1519 übersetze er dafür zu Beginn des Johannes-Evangeliums logos mit sermo anstatt, wie man es gewohnt war, mit verbum (eine Übersetzung, die dann übrigens Sebastian Castellio in seiner lateinischen Bibelübersetzung, Basel 1551, so übernommen hat). Die zunächst simple Frage, wie die weitere Bedeutung des griechischen Wortes aufzufassen und dann eben zu übersetzen sei, war hier, wie auch an anderen Stellen, mit weitreichenden dogmatischen Konsequenzen verbunden. Das Dogma der unbefleckten Empfängnis etwa stand auf dem Spiel, wenn aus ave gratia plena (ebenfalls in der zweiten Ausgabe) ein sprachlich gut begründbares ave gratiosa wurde und der Erzengel mit einem Mal «fast flirtend» zu Maria sprach (171); an anderer Stelle kratzte die sprachliche Wendung an der Gültigkeit der Vorstellung von der Erbsünde oder gar der Trinität. Wenig verwunderlich also, dass vielfach schon die Frage verneint wurde, ob Änderungen an der Vulgata überhaupt zulässig seien.

Abb. 3: Beginn des Johannesevangeliums in der Ausgabe des Novum Testamentum Omne, Basel: Johannes Froben, 1519 mit den ausführlichen handschriftlichen Anmerkungen des Rechtsgelehrten Claude Chansonette.

Doch während das Konzil von Trient den Text der Vulgata zur verbindlichen Grundlage der Schriftauslegung machte, wurde den Protestanten, was die griechische Fassung betrifft, Erasmus’ Edition zum Textus receptus, zum akzeptierten, fortan zugrunde gelegten Text. Dessen Geschichte wiederum lässt sich – so das abschliessende Kapitel – beispielhaft aufzeigen anhand des Umgangs mit dem sog. Comma Iohanneum, jenem viel diskutierten Nebensatz (im 1. Johannesbrief 5,7–8), dass der Vater, das Wort und der Heilige Geist eins seien, der in der Vulgata enthalten, in den griechischen Handschriften, auf die Erasmus zurückgriff, hingegen nicht überliefert ist: Erasmus selbst hatte die Stelle zunächst weggelassen, fügte sie aber – wohl angesichts der heftigen Kritik – in der Ausgabe von 1521 wieder ein; auch in anderen Editionen des 16. Jahrhunderts ist sie enthalten, so in der schönen Oktavausgabe, die Robert Estienne 1551 in Genf druckte (Abb. 2), als er sich bereits der Reformation angeschlossen und aus Paris dorthin übersiedelt war – der ersten mit der heutigen Verseinteilung. Heute ist das Comma in der griechischen Ausgabe des Neuen Testaments von Nestle-Aland in den kritischen Apparat verbannt.

Welche Bedeutung Erasmus’ Novum Testamentum hatte, lässt sich auch den vielen Randnotizen entnehmen, die sich in den erhaltenen Exemplaren finden, etwa im Handexemplar des Rechtsgelehrten Claude Chansonette (Ausgabe von 1519, Abb. 3), in dem die Seite mit dem Beginn des Johannes-Evangeliums rund um die Zierleisten von Urs Graf gänzlich mit Randbemerkungen ausgefüllt ist ist. Sie ist in dem Ausstellungskatalog ebenso zu sehen wie eine Seite aus Vadians Exemplar der Annotationes.

Freilich, der Begleitband kann den Grundriss der Ausstellung nicht nachahmen, der dem Chi-Rho- Monogramm gehorchte und mit dieser Vorgabe auch formal die inhaltliche Bestimmung vollzog, wie hier ja auch einzelne reproduzierte Seiten das Blättern in den Drucken des 16. Jahrhunderts und das sich Seite für Seite vorarbeitende Leseverständnis ersetzen müssen (in der Ausstellung war es dank eines faksimilierten Exemplares des Novum Instrumentum möglich). Doch die grosszügigen Abbildungen, die einlässlichen Annotationen und Kapiteleinführungen zeichnen ein gutes, vielleicht besseres Bild dieser epochalen Edition, ihrer Entstehungsbedingungen und Wirkung. Erfreulich auch, wie voraussetzungslos und sprachlich frisch (auch was das ins Deutsche gebrachte Humanistenlatein anbelangt) diese Editionsgeschichte daherkommt. Und wer den Text des Novum Instrumentum integral lesen möchte, dem sei der 1986 erschienene Faksimile-Neudruck im Verlag Frommann-Holzboog empfohlen.

Ueli Dill und Petra Schierl (Hrsg.): Das bessere Bild Christi. Das Neue Testament in der Ausgabe des Erasmus von Rotterdam (= Publikationen der Universitätsbibliothek Basel 44). Basel: Schwabe Verlag 2016, 220 S., broschiert, CHF 38.–

Abb. 4: Novum Testamentum Omne, Basel: Johannes Froben, 1519, Ausschnitt mit der Zierleiste des Matthäusevangeliums. Auf dem Schild ist in Griechisch ebenso trotzig wie selbstbewusst vermerkt: «Das wird einer leichter kritisieren als nachahmen.»