Buchbesprechung: Ein Kleid aus Noten – Mittelalterliche Basler Choralhandschriften als Bucheinbände

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von Dina Tamar Schneberger

sph-Kontakte Nr. 103 | Februar 2017

Hrsg. von Matteo Nanni, Caroline Schärli und Florian Effelsberg, Basel, Schwabe-Verlag,
2014 ISBN: 978-3-7965-3323-5 245 S., geb., 45.00 CHF

Unkonventionelle Dinge verlangen bezüglich ihrer Erschliessung bisweilen nach unkonventionellen Methoden. Entsprechend könnte man den Ansatz der hier vorgestellten Buchpublikation umreissen: Man nehme historische Gebilde von ungewöhnlicher Schönheit, gepaart mit einer denkbar verschlüsselten Objektgeschichte, und lasse Studenten und Wissenschaftler aus ihren jeweils unterschiedlichen Perspektiven Texte dazu verfassen. Der Gegenstand dieses Buches ist dieser vielschichtigen Betrachtung allemal wert!

Die schönen, geheimnisvollen Objekte, denen diese Publikation gewidmet ist, sind mit Musikalienfragmenten umhüllte frühneuzeitliche Archivalien, die heute in Bibliotheken und Archiven aufbewahrt werden und von denen auch das Staatsarchiv Basel- Stadt mehrere hundert Exemplare beherbergt. Im Kern handelt es sich bei diesen Akten um unter äusserst pragmatischen Gesichtspunkten angelegte administrative Dokumentationen: seitenlange Auflistungen von Einkünften und Liegenschaften der ehemaligen Klöster und anderer Institutionen der Stadt Basel. Derartige Verzeichnisse der Wirtschaftsverwaltung, Zinsbücher und Urbare, sind seit jeher relevante Quellen für die Erforschung von Siedlungs-, Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte. Klingt wichtig, ist wichtig – bleibt aber an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung.

Entgegen der Maxime «don’t judge a book by its cover» ging bei diesem Buchprojekt die Faszination von den Umschlägen und Einbänden aus, die aus mittelalterlichen Handschriftenfragmenten bestehen. Die oft grossformatigen Pergamentbekleidungen, einst Seiten wertvoller, zum Teil prächtig verzierter Choralcodices, lassen sich so gar nicht mit dem vorherrschenden Bild des verstaubten Archivales in Einklang bringen und werfen als solche Fragen auf, die über ein rein archivalisches oder musikwissenschaftliches Interesse weit hinausgehen. Etwa: Was steht hinter der eigentümlichen Fusion zweier so verschiedener Gegenstandsbereiche? Von welchen Kontinuitäten und Brüchen innerhalb der Kultur und Religionsgeschichte Basels zeugen sie? Welche medialen Entwicklungen werden gespiegelt? Was ist die gestalterische Intention hinter dem Gesangbuch und wie wird diese im Prozess des Recyclings des Codexblattes als Einbandmakulatur aufgegriffen bzw. transformiert ?

Eine interdisziplinär angelegte Lehrveranstaltung unter der Leitung von Professor Matteo Nanni, die vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel in Kooperation mit der Kunstgeschichte ausgerichtet wurde, öffnete den Raum für derlei Fragen. Im Rahmen dieses Seminars, Forum für Studierende und Lehrende gleichermassen, sind die Beiträge der Publikation entstanden. Die für den Band ausgewählten Texte stehen exemplarisch für die unzähligen Fragen, welche die verschiedenen Wissenschaften an die Objekte stellen können, und verstehen sich gleichsam als Informationsquelle und als Anregung zu neuen Reflexionen über den kontinuierlichen historisch-kulturellen Wandel und die damit verbundene Verschiebung von Werten. Die traditionell musikwissenschaftliche Erforschung von Musikalienfragmenten, die als Einbände umfunktioniert wurden, wird in dem Band erweitert und ergänzt durch neue Facetten verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Der innovative Umgang mit den Archivalien spiegelt sich jedoch nicht nur im Spektrum der Texte, sondern auch in ihrer visuellen Inszenierung. Die im umfangreichen Bildteil versammelten Fotos von Daniel Spehr lassen in ihrer Unmittelbarkeit ein Stück der von den Objekten ausgehenden Faszination greifbar werden, ohne sie dabei zu verklären. Die Farbfotos stehen in wohlbedachtem Kontrast zu Florian Effelsbergs nüchternen Schwarzweissaufnahmen des Archivs, die dem Leser Einblicke in den Aufbewahrungsort der Archivalien gewähren.

In der Einleitung des Bandes nimmt Selina Spatz den Leser mit auf eine plastisch geschilderte Reise an jene Orte des mittelalterlichen Basels, die mit der Herstellung und Verwendung der Choralcodices in Verbindung stehen, und erzählt von einem entscheidenden Ereignis, das die Gesangbücher von einem auf den anderen Tag obsolet werden liess – der Reformation. Mit dem Ende des liturgischen Gebrauchs der mittelalterlichen Choralbücher beginnt eine neue Geschichte, die von ihrem Recycling durch nachreformatorische Buchbinder über die frühneuzeitliche Nutzung der in Pergamentfragmente eingehüllten profanen Bände bis hin zu ihrer modernen Archivierung und Erforschung reicht. Gewappnet mit dem gebündelten Wissen dieser Zeitreise wird der Leser eingeladen, sich auf einzelne Aspekte einzulassen, die die Objekte betreffen. Die dreizehn folgenden Texte eröffnen Denkräume, innerhalb derer die Autorinnen und Autoren sich fachspezifischen Themen aus dem Bereich der Musikwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte widmen, aber auch interdisziplinären, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Fragestellungen. Der Band enthält u.a. Texte über Gebrauch und Wirkung geistlicher Musik im Spiegel der mittelhochdeutschen Mystik, die Herstellung von Pergament und Tinte, über die mise en page und den kunstvollen Buchschmuck der mittelalterlichen Handschriften wie neuzeitlichen Einbände.

Dieser breite und interdisziplinäre Ansatz ist ad hoc ermöglicht worden, da mit der bisher unveröffentlichten Arbeit des Basler Musikwissenschaftlers Frank Labhardt (†), in der nahezu alle Choralfragmente des Staatsarchivs systematisch erfasst und katalogisiert wurden, ein solides Fundament vorhanden war, auf dem die Autorinnen und Autoren aufbauen konnten. Ein Auszug aus dem Kommentar der 1993 abgeschlossenen Studie wird im vorliegendem Buch erstveröffentlicht. Die Schlüsselrolle der musikwissenschaftlichen Quellenauswertung wird ferner durch einen Beitrag von Martin Staehelin, einer Einführung in die Arbeit an älteren Musikfragmenten, betont.

Die scheinbaren Brüche zwischen den teils essayistisch gehaltenen, teils methodenbasiert verfassten Beiträgen sind Spiegel für die Vielschichtigkeit der besprochenen Objekte. Die Archivalien entziehen sich einer eindimensionalen Betrachtung und erfordern einen ganzheitlichen, undogmatischen Blick, der in dieser Publikation durch eine Kombination aus faktenbasiertem Wissen, Hermeneutik und einer durchgängigen Faszination für die Sache gelingt.