Medizinalpapiere oder die Verwendung von Papier als Materia Medica

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von Martin Kluge

sph-Kontakte Nr. 89 | Juli 2009

Präparateglas «Papier» aus der Sammlung früher verwendeter Heilmittel im Pharmazie-Historischen Museum der Universität Basel

Folgt man der steilen Treppe in den ersten Stock, betritt man zuerst einen Saal mit der Bezeichnung „Materia Medica Obsoleta“. Die Rede ist vom Pharmazie-Historischen Museum der Universität Basel. Hier werden seit den 1920er Jahren Arzneistoffe gesammelt und ausgestellt. Der Fokus der ausgestellten Heilmittel und Ingredienzien liegt auf der Alten Medizin, also einer medizinischen Praxis vor dem industriellen Umbruch im 19. Jahrhundert. Dicht drängen sich die Präparategläser in den Vitrinen, in zwei oder gar drei Reihen hintereinander. Gleich in der ersten Vitrine, die den pflanzlichen Arzneistoffen gewidmet ist, steht unauffällig und von den meisten Besuchern unbemerkt ein Präparateglas, in dem ein zusammengerollter Bogen Papier steckt. Die Etikette, deren Kopf mit „Pharmazeutischer Anstalt Basel“ beschrieben ist, trägt die handschriftliche Inhaltsangabe des Glases: „Papier“. – Papier als Heilmittel, kann das sein? Was steckt dahinter und wie gelangt dieses Präparat, das in den 1920er oder 1930er Jahren entstanden sein dürfte, in die Sammlung? Zeit also, sich auf die Suche nach der heilenden Wirkung von Papier zu machen.

Einen ersten Hinweis für den medizinischen Gebrauch von Papier erhielt ich von einer Besucherin, die mir anlässlich einer Führung erzählte, ihre Oma hätte ihr bei jeder Art von Bauchweh, Fieber oder Grippe die Zeitung auf den Bauch gelegt und gesagt, sie solle diese fest auf den Bauch halten. Das würde helfen. Wie weit es sich hier um die kreative Lösung einer einfallsreichen Grossmutter handelte, die von der Bedeutung von Autosuggestion und Placebo weiss, oder um ein weit verbreitetes Verhaltensmuster, entzieht sich meiner momentanen Kenntnis. Tatsächlich spielt aber Papier in der so genannten Volksmedizin eine wichtige Rolle.

Papier in der Volksmedizin

In der Sammlung des Museum finden wir zahlreiche volksmedizinische Objekte aus Papier, etwa in Form von Schutzamuletten oder Andachtsbildchen. Darunter zwei Papierrollen von rund zwei Meter Länge, aber nur weniger Zentimeter Breite. Sie sollen in der Länge den Körpermassen Marias bzw. Christi entsprechen. Auf der „Wahren Länge Christi“ ist u.a. zu lesen, dass: „der diese unsers lieben Herrn Länge bey sich trägt, oder in seinem Haus hat, der soll versichert seyn, vor allen seinen Feinden, sie sind sichtbar oder unsichtbar, und vor allen Strassen-Räubern und allerhand Zauberey, er soll sicher seyn behüt und bewahret“. Zwar gehören Strassenräuber nicht unmittelbar in den medizinischen Bereich, doch lassen sich mit diesen Amuletten Krankheitsgeister wohl ähnlich abschrecken. Konkreter ist die medizinische Anweisung in einer Rezeptsammlung aus der Sammlung des Pharmazie-Historischen Museums. Es handelt sich hierbei um eine Handschrift, die von „Johannes Drexell von Neiburg, Jitzmall ein armer schuller in Schwitz“ 1582 geschrieben wurde. Sie enthält zahlreiche medizinische Rezepte sowie Traktate über Kräuterkunde und Aderlassregen, Pesttraktate bzw. Segens- und Beschwörungsformeln. Eine Seite beginnt mit den Worten „Hie fachet an ein buoch, das was sein was frauwen natur“ (frei übersetzt „Hier fängt an ein Buch über die Natur der Frau“). Der Text enthält Hilfestellungen bei typischen „Frauenleiden“ wie Menstruationsbeschwerden oder Schwangerschaftsproblemen. Beispielsweise lesen wir als Rat zu „der frauwen fluss“, man soll der Frau einen Zettel um den Bauch binden, auf dem zuvor ein lateinischer Segensspruch geschrieben wurde. „Ist bewäret“, heisst es schliesslich. Und tatsächlich, zahlreiche derartige Schutzzettel haben bis heute überlebt. Ein besonders eindrucksvolles Exemplar entstand im Markgräfler Land in der Zeit um 1800 und befindet sich heute im Museum am Burghof in Lörrach (Abb. 2). Dieser Schutzbrief gegen Hexen und böse Geister diente zum Schutz der Pauline Heusel und ihrer Nächsten. Er enthält auf Vorder- und Rückseite Kombinationen von Buchstaben, Zeichen und Ziffern, Zaubernamen und -worte, die Unterschrift des Erzengels Michael, alchemistische und astrologische Zeichen, christliche Symbole, die Abkürzung des Dreikönigssegen C+M+B, mystisch besetzte Zahlen, Drudenfüsse und Hexagramme sowie ein formelhaftes Gebet zu den Erzengeln, Engeln und Aposteln.

Ebenfalls in den Bereich der Heilmittel aus Papier gehören die so genannten Schluckbildchen. Diesen briefmarkengrossen Heiligenbildchen wurden übernatürliche Heilkräfte zugesprochen. Es handelt sich um Abbilder berühmter Wallfahrtfiguren, die mit ihrer Bildvorlage, der Heiligenfigur, berührt wurden. Als sogenannte Kontaktheiligtümer wurden sie gleich heilbringend wie Wallfahrtsfigur selbst und konnten derart aufgeladen an kranke Pilger abgegeben werden. Als „papierne Pille“ wurden die Zettelchen in Wasser eingeweicht, aufgelöst oder Speisen beigegeben, um anschließend vom Kranken verschluckt zu werden. Die so verinnerlichten Wallfahrtsfiguren waren Bestandteil der „geistlichen Hausapotheke“ und blieben bis heute mindestens als „Fresszettel“ in unserem Sprachgebrauch.

Papier in der Schulmedizin

So einfach es ist, papierene Beispiele in der Volksmedizin zu finden, so schwer fällt es, entsprechende Papieranwendungen für die Schulmedizin nachzuweisen. Denn Papier hatte nie einen Platz in der Liste der Heilmittel. Aber dennoch ist Papier auch hier nicht wegzudenken. Papier gab vielmehr einer ganzen Arzneiform als „Charta“ ihren Namen. Im „Handbuch der Pharmazeutischen Praxis“ von Dr. Hermann Hager, Ausgabe 1893, heisst es: „Papier (Charta) dient häufig als Excipiens von Arzneikörpern und auch anderer Substanzen, wodurch es besondere, für die pharmazeutische Praxis zu verwerthende Eigenschaften erlangt.“ Er zählt sogleich eine ganze Reihe von Beispielen und Anwendungen auf, darunter ein „Charta medicamentosa gradata”, ein geripptes Heilpapier. Dieses bestand aus feinem Fliesspapier, dass mit einem bestimmten Gehalt an Arzneisubstanz getränkt und entsprechend einer vorgedruckten Einteilung in kleine Teile von 1/20 cm2 geschnitten wurde. Auf diese Art entstanden leicht dosierbare Arzneien gegen Gicht, Arthritis oder Asthma. Als Beispiel sein hier das Charta Chemica als eine Art Pflaster genannt. Dafür wird ein „feines Velin- oder Seidenpapier durch geschmolzenes Empastrum fuscum (sine Camphora) gezogen und zwischen zwei Linealen abgestreift. Dieses Papier ist bei Wunden, Brandwunden, allerhand Schmerzen und Leichdornen empfohlen worden und in Frankreich stark im Gebrauch“. Aber nicht nur zum Schlucken und Pflastern eignet sich Papier. Auch zum Inhalieren kann Papier nützlich sein, wie der „Brockhaus“ 14 Auflage von 1894-1896 unter S wie „Salpeterpapier“ berichtet: „Salpeterpapier, Asthmapapier, wird erhalten durch Tränken von Filtrierpapier mit einer Lösung von Kalisalpeter und darauffolgendes Trocknen. Die beim Anzünden des S. sich entwickelnden Gase dienen, eingeatmet, als Mittel gegen asthmatische Beschwerden.“

Zugegeben, selbst bei diesen Anwendung handelt es sich nicht um eine direkte Verwendung von Papier als Heilmittel, sondern vielmehr um Papier als Trägerstoff. Ähnlich verhält es sich bei den weiteren speziell in der Apotheke verwendeten bzw. hergestellten Papiersorten wie Wachspapier, Paraffinpapier, Pergamentpapier, Filtrierpapier oder Reagenzpapier.

Abbildung des gerippten Heilpapiers aus Hagers Handbuch der Pharmazeutischen Praxis von 1893 (Originalgrösse)

Papier in der asiatischen Medizin

Will man Papier seine Bedeutung als Heilmittel absprechen, so geht das nur in der europäischen Medizin. Ganz anders sieht es aus, blickt man nach Osten zur asiatischen Medizin. Hier spiel Papier eine weit grössere Rolle im Arzneischatz als bei uns.

Zuvor aber noch ein Beleg, der die Ähnlichkeiten zwischen der Asiatischen und der Europäischen Medizin unterstreichen soll. Auch in Fernost finden wir Anwendungen, die unserer Volksmedizin – mit Schluckbildchen und Schutzzetteln – sehr ähnlich ist. Als Beleg sei hier ein Druckstock aufgeführt, der zwischen 1920 und 1928 in der östlichen Mongolei gefunden wurde. Er liegt heute im Ethnographischen Museum in Antwerpen. Auf dem 11,7cm langen und 2, 9cm breiten Druckstock stehen 13 Formeln mit spezifischen Anwendungen. So dienen die mit diesem Druckstock bedruckten Papiere „gegen Zittern, bei Geisteskrankheit; um Übel zu unterdrücken; bei Anthrax“. Auf einer anderen Seite des Druckstocks steht „Iss es bei Grippe“ oder „ Iss 9 bei Brustschmerzen“ sowie “ bei Halskrankheit, bei Magenblähungen“. Und schliesslich auf der dritten Seite heisst es „Iss es bei Magenschmerzen“ „Bei plötzlichen Erkrankungen“. Der Ursprung dieser asiatischen Form der „Fresszettel“ dürfte in der tibetanischen Medizin liegen, die sich auch in der östlichen Mongolei verbreitet hat. Die tibetanische Medizin ist wiederum eine Sonderform des aus Indien kommenden Heilsystems der Ayurveda, die in Tibet eine eigene Ausprägung erlangte.

Druckstock und Abzug der einen Seite der mongolischen «Medizinalpapiere». Antwerpen, Etnografisch Museum.

Chinesische Medizin

Anders als in Europa hat Papier in China einen festen Platz in der Liste der Heilmittel. Nach chinesischer Vorstellung lassen sich alle Heilmittel ähnlich der europäischen Säftelehre den 5 Elementen zuordnen und haben einen spezifischen Charakter. Demnach seien alle Papiere süss, lauwarm und ungiftig. Eine der aufschlussreichsten Quellen über den medizischen Umgang mit Papier als Heilmittel im alten China finden wir in der grossen Pharmakopöe des Li Shizen. Unter dem Titel Ben cao gang mu („Das Buch heilender Kräuter“) veröffentlichte Li Shizen 1596 eine Liste von 347 Arzneistoffen: 239 aus dem Pflanzenreich 65 Belege tierischer und 43 mineralischer Natur. Auf dieser Basis stellte Li Shizen über 4000 pharmazeutische, teilweise von ihm verfasste Rezepte vor. Allerdings erhielt Papier erst Eingang in die zweite, erweiterte Auflage von 1655. Neben dieser Hauptquelle finden sich weitere, z.T. über ein Jahrtausend alte Rezeptsammlungen, die Papier als Heilmittel anpreisen. So haben wir aus der Tang-Dynastie (618-907) das Rezeptbuch Chuan xin fang von Liu Yuxi. Aus der südlichen Tang-Dynastie (937-975) stammt das Rezeptbuch Shenghui fang des Chen Shi liang. Aus der Song-Dynastie (960-1279) das Baiyi xian fang von Wang und schliesslich das Rezeptbuch Puji fang von Wang Su aus der Ming-Dynastie (1368-1644).

Zu Asche

In all diesen Sammlungen dominiert die Anwendung von verbranntem Papier als blutstillendes Mittel. Dazu muss man wissen, dass bestimmte Arten von Kohle eine häufig verwendete Arzneiform in Asien darstellt. In der Sammlung der Arzneistoffe des Pharmazie-Historischen Museums Basel finden sich etwa aus Japan eine ganze Reihe eher kurios anmutende Beispiele von Kohle als Heilmittel. Zu sehen ist dort beispielsweise verkohlter Maulwurf gegen Frauenkrankheiten, verkohltes Eichhörnchen gegen Bettnässen oder verkohlter Katzenkopf gegen Asthma. In diesem Sinn ist wohl auch das folgende Rezept aus der jüngsten der oben zitierten Quellen zu verstehen: „Bei Unaufhaltsamen Blutbrechen: Man brennt fünf Bogen weisses, dünnes Papier zu Asche und lässt diese mit Wasser einnehmen. Das hat eine unsagbare Wirkung.“ Zwei Qian (7,5g) davon mit Alkohol schlucken helfe bei unaufhaltsamem Nasenbluten. In die gleiche Richtung geht die Aussage in der ältesten genannten Quelle, dem Chuan xin fang, nur etwas marktschreierischer und weniger zurückhalten: Bricht die Menstruation nicht ab oder setzt nicht zur rechten Zeit ein, so soll man mit einem halben Sheng Reiswein (ca. 6 dl) die Asche aus 30 Blatt Papier einnehmen. „Die Blutung stellt sich unverzüglich ein“. Dieses Rezept würde selbst bei einem Koma wirken, welches durch übermässigen Blutverlust nach der Geburt eintreffe.

In der berühmten Arbeit des Li Shizen, dem oben beschriebenen Ben Cao kang mu wird die blutstillende Wirkung sogar nach Papiersorten ausdifferenziert: Zu Asche gebranntes Papiermaulbeer-Papier stillt demnach Blutbrechen, zu starke und zu lang anhaltende Menstruationsblutungen und SchnittwundenRotan-Papier-Asche hilft bei Wundblutungen, „innerer Hitze“ und bei Nasenbluten und schliesslich stillt Hanfpapier jede Art von Blutverlust.

Aus unserer modernen medizinischen Perspektive lassen sich äusserlich angewendet Asche oder Kohle zusammenziehende oder austrocknende Eigenschaften zusprechen, innerlich verabreicht lässt sich eine blutstillende Wirkung nicht herleiten.

In den Arzneibüchern des Alten Chinas finden sich für Papierasche auch weitere, nicht blutstillend Indikationen. Etwa gegen bösartige Malaria: Man nehme den gesamten Kalender des folgenden Jahres. Zur Mittagsstunde des Drachenbootfestes (zwischen dem Ende Mai bis 2. Juni) verbrenne man ihn zu Asche. Dann verpappe man diese und forme Pillen in Grösse des Wu-Baum-Samens (etwa so gross wie Pfefferkörner). Frühmorgens gebe man 50 Pillen.

Von einem geradezu blinden Vertrauen gegenüber der Staatsmacht zeugt folgendes Rezept gegen Kinderlosigkeit nach einem Schwangerschaftsabbruch: Ein Qian (3,7g) von Asche aus amtlich herausgegebenen bedruckten Papier habe mit Wasser eingenommen grosse Wirkung.

Vertrauter ist die Verwendung von Papier als Pflaster. Blutausspitzen auf die Haut behandelte man in China, indem man Papier auf einen Krug mit heissem Wein legte. Dann zerriss man es in Schnitzel wie Weidenblüten und verteilte diese auf die blutenden Stellen. Damit würde die Blutung gestillt. Mit Pflastern aus Graspapier verband man Furunkeln, es mindere ausgezeichnet die Geschwulst, so Li Shizen.

Papier in der Arzneimittelherstellung

Ähnlich wie in der europäischen Schulmedizin hat Papier in China auch die Funktion des Arzneiträgers und der Arzneigabe. In feines Seidenpapier gewickelte Arzneien wurden wie Kapseln geschluckt. Vergleichbar mit dem gerippten Heilpapier oder dem Salpeterpapier gegen Asthma, wie wir es aus Europa kennen, ist folgendes Rezept des Li Shizen: «Zwei Quin (7,5 g) altes Rotang-Papier röstet man in einer Flasche und bringt ein bisschen Moschus ein. Mit Alkohol einzunehmen. Ausserdem rollt man Moschus in Papier ein, entzündet es und beräuchert die Nase». Der gleiche Autor berichtet zudem: «Gewöhnlich röstet man Heilmittel, indem man sie in mit Tusche eingefärbtes Papiere einwickelt, so kann man sie bestens gegen das Feuer schützen.» Folgende Kostproben sollen die Praxis verdeutlichen:

In Bambuspapier gehackte Hundehaare, gebrannt und pulverisiert, helfen bei Malaria [aus Shenghui fang]. Gegen Bettnässen bei Alten und Jungen bereitet man einen Bogen weisses Papier unters Bettzeug und wartet, bis es ganz genetzt ist. Unter Beschwörungen verbrennt man es und lässt es dann mit Alkohol einnehmen [aus Jixuanfang]. Papiergeld lasse vor allem Furunkeln ausfliessen. Man verbrennt es in einem Zylinder. Unter Ausnützung der Hitze saugt man die kranken Stellen an. Die Asche daraus stillt das Blut. Atmet man den Rauch davon lange ein, schädigt er die Lungenenergie [nach Li Shinhen]

Und noch einmal in Europa

Um den Bogen zu schliessen wollen wir noch eine Internetrecherche zu «Medizinalpapier» wagen. Der Begriff ist, zugegeben, ein Kunstbegriff des Autors. Da aber Google und das Internet für alles und jedes auch nur annähernd Erdenkliches ein Suchergebnis liefert, soll das Ergebnis hier nicht verschwiegen werden. Neun Treffer verzeichnet Google. Gemeint ist jeweils ein plasikbeschichtetes Papier als hygienischer Überzug für Arztliegen. Und wer stellt es her? Die Papierfabrik Netstal aus der Schweiz!