Wie kam das Papier in die Auvergne? Ein Ausflug in die Welt papierhistorischer Legenden

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von Peter F. Tschudin

sph-Kontakte Nr. 94 | Februar 2012

Stolz sind sie, die Auvergnaten, stolz auf ihren besonderen Schlag, ihre eigentümliche Sprache, ihre spezielle Geschichte, ganz besonders aber auf ihr Papier. Immerhin lieferten sie in den letzten 150 Jahren das handgeschöpfte Papier für die Vorzugsausgaben fast aller bedeutenden literarischen Editionen der Pariser Verlagshäuser, etwas konkurrenziert durch die Papiermühle Lana in Docelles (Vogesen). Sie sind felsenfest davon überzeugt, als erste Franzosen das Papiermacherhandwerk übernommen zu haben, und dessen Blüte in Frankreich ist tatsächlich mit grossen Namen aus Auvergne und Ardèche wie Johannot, Canson und vor allem Montgolfier verbunden. Und die Auvergne-Papiersorte «Grand Colombier», im 18. Jahrhundert europaweit als bestgeeignetes Papier für Illustrationsdrucke bekannt, vermochte der übermächtigen holländischen Konkurrenz, die sich auch auf Importe aus den Mühlen des Angoumois stützte, Paroli zu bieten. Der Begründer des Papiermuseums «Richard de Bas» im Val Laga bei Ambert, Marius Péraudeau, hat denn auch die historische Jahreszahl der ersten Papierurkunde mit einem Herz als angeblich auvergnatischem Wasserzeichen (1326) auf den Schöpfsieben seiner Mühle anbringen lassen.

Wer sich näher für die Geschichte des Papiers der Auvergne interessiert, erhält minutiöse Auskunft durch eine lokale Überlieferung, die über viele Generationen von Papiermachern von Vater zu Sohn mündlich weitergegeben worden ist. Demnach hätten am 1. Kreuzzug, der von der Auvergne ausging, auch drei tapfere Mannen namens Malmenaide, Falguerolles und Montgolfier teilgenommen. In einer späteren Fassung der Erzählung ist noch von einem vierten Mann, Sauvade, die Rede. Diese ersten «Compagnons» seien im Heiligen Lande gefangen genommen und als Sklaven einem Papiermühlenbesitzer bei Damaskus übergeben worden. Dort hätten sie das Papierer-Handwerk gelernt. Als später der heilig gesprochene König Ludwig (Saint Louis) sich nach seinem verunglückten Kreuzzug habe aus der Gefangenschaft loskaufen können, seien auch die Auvergnaten freigekommen und nach der Heimat zurückgereist, der Montgolfier allerdings nicht auf direktem Weg, sondern über Bayern. Eine andere Version spricht von Mainz, wo er das Papier für die Gutenberg-Bibel hergestellt hätte. In die Auvergne zurückgekehrt, hätten sie die Papiermacherei eingeführt, als erste in Frankreich.

Und wer nun, etwas skeptisch, nach Beweisen fragt, dem wird eine beeindruckende Namensliste vorgeführt: die Papiermühle «Le Damas», die Papiermühle «L’Escalon», die Papiermühle «Nouara», die bestbekannte Papierer- und Verlegerfamilie Gourbeyre, die Familien Malmenaide, Falquerolle und Sauvade, und – speziell hervorgehoben – die Montgolfier, deren angeblicher Stammsitz nahe Ambert als Ruine gezeigt wird.

Der davon unbeeindruckte Historiker stellt zunächst nüchtern fest, dass der erste Kreuzzug tatsächlich auf einen Beschluss der Synode von Clermont (Auvergne!) zurückgeht und von 1096 bis 1099 dauerte. Eines der ältesten Dokumente der Auvergne nennt 1096 den Verkauf von zwei Pferden an einen Pontius Monetarius, der dem Priorat Saint-Sauveur als Bezahlung den Weiler «Mons Volferii» in der Pfarrei St.Genest übereignet. Natürlich, sagen die Lokalhistoriker, kann das nur ein Montgolfier gewesen sein. Doch der zeitliche Abstand zur in der Legende erwähnten Rückkehr der «Papiermacher» aus Syrien, die im 13. Jahrhundert stattgefunden haben soll, ist zu gross; also fällt jeder Bezug zum 1. Kreuzzug weg.

«Mons Volferii» hingegen scheint tatsächlich den Weiler «Montgolfier» bei La Forie (nördlich Ambert) zu bezeichnen, dessen Papiermühle im Besitz der Familie Montgolfier im 16. Jahrhundert belegt ist. Marius Audin hat, fixiert auf die späteren Besitzungen der Montgolfier im Beaujolais, den Ort mit St.Genest-Malifaux bei St. Étienne identifizieren wollen, ungeachtet der Tatsache, dass es in der Auvergne eine Vielzahl von Pfarreien dieses Patroziniums gibt, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Schreibweisen des Heiligennamens.

Auch die erwähnte Namensliste der Mühlen hält einer Überprüfung nicht stand. Die Damaskus-Mühle erweist sich als Damen-Mühle («Les Dames»), und Askalon wird zur «Mühle am Wasserfall» (escale = Stufe). Nouara scheint alter Dialekt zu sein; die Erklärung («dunkles Tal» oder «neue Rodung») ist umstritten. Die Familiennamen hingegen sind historisch, wenn auch die Dreizahl der «Compagnons» an die Drei Musketiere oder die Drei Könige erinnert, zu denen jeweils noch ein vierter Mann dazustösst. Die Familie Gourbeyre leitet ihren Namen von der alten, nicht mehr verstandenen Ortsbezeichnung ihrer Mühle ab.

Wenden wir uns Saint Louis zu. Sein trauriges Schicksal ist allgemein bekannt. Die Niederlage von Mansura nach Eroberung von Damiette (arab. Dumyat, Nildelta) im 6. Kreuzzug mit anschliessender Gefangenschaft des ganzen Heeres, die erst durch Zahlung eines enormen Lösegeldes beendet wird, ist aktenkundig belegt, ebenso die Fortsetzung des Zugs nach Akkon und Tripolis (Syrien) vor der Rückfahrt nach Frankreich. Die entsprechenden Daten (1248–1254) stimmen mit der angenommenen Zeitstellung der Legende (Rückkehr der Kreuzfahrer kurz nach der Mitte des 13. Jahrhundert) überein.

Zu berücksichtigen ist auch die Familien-Überlieferung der Montgolfier. Diese versucht, in mehreren Varianten, eine Herkunft aus deutschen Landen zu belegen. Als Ursprungsort steht das bayrische Frankenthal in der Oberpfalz im Mittelpunkt. Zwei Brüder Montgolfier hätten am ersten Kreuzzug teilgenommen, und nur einer sei dorthin zurückgekehrt. Da aus chronologischen Gründen keine direkte Verbindung zu den späteren Papiermachern hergestellt werden kann, wird weiter erzählt, ein Neffe des Überlebenden namens Johann (Jean) sei 1147 beim Zweiten Kreuzzug in Gefangenschaft geraten und habe als Sklave in Damaskus drei Jahre lang Baumwollpapier hergestellt. Nach gelungener Flucht sei er 1157 wieder in die Heimat zurückgekehrt und habe die erste Papiermühle Europas gebaut. Weil aber Baumwolle über Venedig zu teuren Preisen aus dem Orient importiert werden musste, habe er zusammen mit einem Neffen oder Enkel namens Peter (Pierre) ein Papier aus Leinen und Hadern erfunden.

Um 1350 hätten zwei Mitglieder dieser Familie Frankenthal verlassen und hätten die Papiermacherei nach Ambert (Auvergne) gebracht. Und rund 100 Jahre später habe sich Jakob (Jacques) Montgolfier, ein Glied der in Deutschland verbliebenen Familie, um die Druk-kerei verdient gemacht, indem er durch seine Verbesserungen der Papiermachertechnik den Druck der Gutenberg-Bibel ermöglicht habe. Gutenberg habe dies durch Erwähnung des Namens seines Papiermacher-Freundes in dieser Bibel verdankt. Eine andere Version besagt, der Name des Montgolfier sei in den Wasserzeichen der Gutenberg-Bibel festgehalten. Einer der Nachkommen Jakobs namens Johann (Jean), ein glühender Anhänger Luthers, habe seine zwei Söhne in die Auvergne gesandt, um die dortigen Verwandten zum reformierten Glauben zu bekehren. Der deutsche Zweig der Montgolfier sei im 16. Jahrhundert ausgestorben.

Der Montgolfier-Biograph Rostaing hat die angeblichen Familienglieder in Deutschland nachzuweisen versucht, jedoch ohne Ergebnis. Er kommt zum Schluss, dass einzig die Annahme, die Familie habe, für die Geschichte anonym, im Schutze des Augustinerklosters von Frankenthal gearbeitet, der Situation gerecht werde; dies wiederum stehe aber im Gegensatz zur Nachricht von der Gründung der ersten Papiermühle Deutschlands 1390 durch Ulman Stromer. An der Übersiedlung zweier Brüder Montgolfier in die Auvergne im 14. Jahrhundert hält er, auch wenn sie ihm unbeweisbar erscheint, fest.

In der Auvergne beginnt der Stammbaum der Familie Montgolfier mit einem Eintrag in die Hospiz-Akten von Ambert: «Eheschliessung von Pierre, von Montgolfier, Sohn des Jean, von Montgolfier, Landwirt im Weiler Montgolfier, mit Damienne Imarigheon, ihres Alters 16 bis 17 Jahre, Tochter des Jean-Etienne und der Anna Thénot, vorgenommen in Ambert am 8. Juni 1535 in Gegenwart des Anne (?), von Montgolfier, Priester der Hauptkirche dieser Stadt, des Jacques Montgolfier und anderer ‹ Zeugen ›.» Die später in der Auvergne nachweisbaren Montgolfier, nicht alle Papierer, wohnten in Ambert oder in seiner weiteren Umgebung.

Ambert wurde 1558 von einer protestantischen Truppe unter dem berüchtigten Hauptmann Merle belagert und eingenommen; 1559 eroberte es eine katholische Armee zurück; die letzten Protestanten wurden 1592 von den Soldaten des Herzogs von Nemours getötet. In diesen Wirren sollen 94 Papiermühlen zerstört worden sein. Jacques Montgolfier, Enkel des 1535 genannten Pierre, verliess 1559 Ambert und gründete, unterstützt von den protestantischen Herren von Beaujeu und der reichen Adelsfamilie der Pressavin, in St.Didier bei Beaujeu eine Papiermühle. Diese wurde in den Unruhen nach der Bartholomäusnacht 1572 verwüstet. Dank seinen Gönnern gelang rasch ein Wiederaufbau, dem eine Blütezeit der Papiermacherei im Beaujolais folgte. Zwei Brüder, Michel und Raymond Montgolfier, ehelichten 1693 die beiden Töchter aus erster Ehe des Papierers Antoine Chelles, aus einem Papiermacher- und Papierhändlergeschlecht von Ambert, der in Vidalon bei Annonay eine Papiermühle besass. Damit beginnt der von nun an lückenlose Stammbaum des durch die Papier-Manufaktur von Vidalon und die Erfindung des Heissluftballons berühmt gewordenen, geadelten Familienzweigs der Montgolfier.

Eingedenk dieser Familienchronik, die von Bayern zum Weiler Montgolfier und bis nach Vidalon führt, glaubt der Historiker, im Legenden-Puzzle doch einige Passer-Stücke finden zu können. Offensichtlich wird in der sehr spät entstandenen Version versucht, den einheimischen, französischen Familiennamen mit frühem Papiermachen und mit Bayern in Verbindung zu bringen, und dazu kann eine Verknüpfung mit der auvergnatischen Kreuzfahrerlegende nur dienlich sein. Doch weshalb gerade Bayern? Der Schlüssel liegt im Namen Frankenthal, der in der Gutenberg-Variante als Frankenthal bei Ludwigshafen auftaucht. Wo denn sonst sollten die französischen (fränkischen) Montgolfier sich aufgehalten haben? Bayern bzw. Ludwigshafen stehen ganz klar für das Herkunftsgebiet der «Anhänger Luthers», die der Auvergne die Reformation gebracht haben. Hätte ein Montgolfier als Wandergeselle sich in deutschen Landen der Reformation angeschlossen und den neuen Glauben in seiner Heimat verbreitet? So erscheint die Familienlegende als eine späte, historisch untermauerte Rechtfertigung der Führungsstellung der Familie Montgolfier sowohl unter den Papiermachern der Auvergne, des Beaujolais und des Vivarais als auch unter den Reformierten Frankreichs! Übrigens findet sich auch für die auf den ersten Blick unbegreifliche Nachricht von der Erwähnung der Montgolfier in der Gutenberg-Bibel eine reale Erklärung: das Wasserzeichen «gotisches P» wird als Initiale des bekannten Montgolfier-Vornamens «Pierre» verstanden!

Bleibt die Kreuzzugslegende mit ihren vielen Ge-schichtsklitterungen. Der nationalstolze Bezug zur Sy-node von Clermont steht parallel zu den Versuchen, die angenommene ursprünglich arabische Technik der ersten Auvergne-Papiermacher in einen mehr oder we-niger plausiblen chronologischen Rahmen zu spannen. Die Hartnäckigkeit, mit der ein syrischer Ursprung verteidigt wird, muss aber zu denken geben, denn ein Bezug auf den 6. Kreuzzug ist sowohl sachlich wie chronologisch nicht à priori auszuschliessen. Neuere Erkenntnisse lassen jedoch eine andere Spur erkennen.

Die «Zickzack-Marken» galten lange Zeit als typisches Merkmal spanisch-arabischer Papiere. Nun finden sich diese Marken auch in Papieren des 13. und 14. Jahrhunderts, die in Norditalien und Südfrankreich hergestellt worden sind. Auffallend ist deren schlechte Mahlung, die an Papiere arabischen Ursprungs erinnert.

Wir dürfen annehmen, dass die im Piemont und der Lombardei, ausgehend von einer lokal ausgeübten «arabischen» Technik, im 13. Jahrhundert entwickelte und gegen Ende des Jahrhunderts in Fabriano perfektionierte «europäische» Technik noch vor Einflussnahme Fabrianos von Genua nach Südfrankreich und Katalonien «exportiert» worden ist. Das verbesserte mittelitalische Papier gelangte erst mit einiger Verspätung dorthin. Als Beweis dürfen die Originalpapiere der Sammlung Briquet und die chronologisch lückenlos erhaltene Reihe der Papiere des Archivs von Sitten angeführt werden, welche den Wechsel der Technik, sichtbar in den Papierqualitäten, eindrücklich dokumentieren. Wäre die Erinnerung an die erste, der arabischen noch nahe stehende, in Europa ausgeübte Technik, welche die Auvergnaten z.B. im Rhônetal oder in der Provence kennen gelernt hätten, der Ursprung der Legende?

Oder stimmen die Berichte von der Sklavenarbeit bei Damaskus wirklich? Wir wissen es nicht. Das vielzitierte angeblich erste Dokument auf Auvergne-Papier von 1326 hilft auch nicht weiter, weil – wie Briquet selbst dazu sagt – die frühen «Herzen» als Wasserzeichen auch ganz anders gedeutet werden können, was die Auvergne-Herkunft völlig in Frage stellte. So erscheint bei Briquet ein stark stilisierter Ochsenkopf in der Rubrik «Coeur» neben einem als Wappenschild zu bezeichnenden «Herz».

Wie dem auch sei, der geneigte Leser möge an diesem papierhistorischen Spaziergang Gefallen gefunden haben.