Vergessene Meilensteine – Louis Piette und die Suche nach neuen Wegen der Papierproduktion

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von Martin Kluge

sph-Kontakte Nr. 91 | Juli 2010

Kennen sie Louis Piette (1803–1862) ? Haben sie schon einmal etwas von ihm gehört?  – Wahrscheinlich nicht. Denn selbst wenn Sie sich für die Geschichte der Papierherstellung interessieren und Sie sich durch die Papiergeschichtswerke der Gegenwart kämpfen, werden Sie kaum auf Louis Piette stossen. Das ist bedauerlich und ungerechtfertigt – und, es war vor allem nicht immer so. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde er noch als wichtiger Pionier der Papierindustrie gefeiert. So wird in Merck’s Warenlexikon von 1884 unter dem Stichwort Hadernsurrogate über die Suche nach Ersatzstoffe für Lumpen seit dem 18. Jahrhundert berichtet. Dort lesen wir über die heute als Meilenstein gefeierten Versuche Jacob Christian Schäffers von 1765: ‹Diese mühsamen Versuche fanden jedoch keine Beachtung, sondern sogar Verhöhnung unter den Papiermachern›. Als herausragenden Pionier der Hadernsurrogate wird hier stattdessen Louis Piette angeführt: ‹Der erste, welcher mit Verständnis Surrogate aufsuchte, war Louis Piette in Dillingen bei Saarbrücken, der die Versuche noch weiter ausdehnte und auf der Papiermaschine namentlich Strohpapiere verschiedenster Art fabrizierte.›

Wer war also dieser Louis Piette, der aus der heutigen Papiergeschichtsschreibung herausgefallen ist, obwohl er zusammen mit seinem jüngeren Bruder bedeutende Erneuerungen in der Papierproduktion einbrachte: Maria Ludwig Valentin Piette (1803–1862), genannt Louis und sein Bruder Prosper Joseph Maria Piette (1806–1872), Prosper genannt, führten erstmals in der Papiergeschichte das Kochen der Lumpen in Kalk und Pottasche an Stelle einer Faulung ein. 1838 erfanden Sie den Kugelkocher und erlangten ein preussisches Patent für einen verbesserten Knotenfänger 1848. Schliesslich entwickelten sie eigene Verfahren zur Leimung der Masse in der Bütte. In den 1850er Jahren produzierten sie das beste Papier in ganz Deutschland. Weit bedeutender allerdings als diese Erfindungen waren die Versuche, die Louis Piette in seiner Papierfabrik in Dillingen durchführte. Dabei suchte er nach neuen Ausgangsstoffen für die Papierproduktion sowie nach neuen Wegen, diese aufzuschliessen und zu bleichen. Sein grösster Verdienst aber liegt in seiner verlegerischen Tätigkeit. Weit offener als jeder andere Kollege berichtete Louis Piette freizügig über seine Versuche und publizierte diese mit unzähligen beigefügten Papiermustern und Materialproben.

Die Suche nach einem Ersatz für Lumpen

Als 1765 Jacob Christian Schäffers in Regensburg seine Versuche publizierte, aus allerlei Pflanzen Papier zu machen, lag die dazu notwendige Technik noch in den Kinderschuhen. Genauso originell wie die von Schäffer verwendeten Rohstoffe – darunter Kartoffeln, Dach­schindeln oder Torf – so unbefriedigend waren auch die Ergebnisse: brüchiges Papier von gelben bis dunkelbraunen Farbton. Auch das erste auf Stroh­papier gedruckte Buch (Matthias Koops Historical Account 1800), konnte weder in der Stabilität des Papiers noch im Farbton glänzen. Bis es für Hadern einen praxis­tauglichen Ersatz in Form von Holzschliff gab, ­mussten noch rund 75 Jahre verstreichen. Und das ist genau jener Zeitraum, in dem die Papiermaschine sich durchzusetzen begann und die Schnellpresse der Druckereien den Papierverbrauch in die Höhe treiben liess. Der Rohstoffmangel für Papier spitzte sich folglich immer dramatischer zu und stellte die aufkommende Industrialisierung vor ihre Existenzfrage. Auch Louis Piette sah die Dringlichkeit der Suche nach Surrogatstoffen. In seinem Leben unternahm er daher mit über 300 verschiedenen Pflanzen Versuche zur Papierherstellung. Allen voran schien ihm Stroh besonders geeignet zu sein. An dessen Verarbeitung hat er vor allem in den Jahren 1828–1835 gearbeitet. 1838 publizierte er die Ergebnisse dieser Versuche in Köln unter dem Titel Die Fabrikation des Papiers aus Stroh und vielen anderen Substanzen im Großen und illustrierte seine Ausgabe mit beigefügten 160 Papiermustern. Noch ein Jahr vor seinem Tod, 1861, gab Louis Piette eine auf 300 Papiermustern erweiterte und textlich überarbeitete Fassung heraus: Die Fabrication des Papieres aus Stroh, Heu, Holz, Brennnesseln, Ginster, Baumblättern, Quecke, …  Zwar standen seinen Versuchen die hohen Kosten der Produktion gegenüber, die noch immer höher waren als die Preise für Lumpen, aber im Resultat konnte Piette lange vor der Erfindung des Holzschliffs einwandfreie weisse, stabile und alterungsbeständige Papiere vorlegen, die weder im Griff noch in der Farbe den Hadernpapieren nachstanden. Sowohl in der Qualität der vorgelegten Papiere wie in der Anzahl der Papiermuster ist also das Werk Louis Piettes den rund 80 Papiermuster Jacob Christian Schäffers um ein vielfaches überlegen.

Vom Tüftler zum Sprachorgan

Bereits 1821, als 18-Jähriger, stieg Louis Piette zu­sammen mit seinem Bruder Prosper in den väterlichen Betrieb – die Dillenburger Papierfabrik – ein, obwohl er zunächst eine juristische Laufbahn anstrebte und nach einem Studium in Metz, Strassbug und Paris eine Zulassung als Advokat erreichte. Dennoch war sein Leben von der Arbeit und dem Streben nach technischen Verbesserungen in der Dillinger Papierfabrikation geprägt, dessen Leitung er zusammen mit seinem Bruder 1833 übernahm. 1848 trennten sich die Brüder und Louis geht 1853/54 nach Arlon (Belgien), wo er für den technischen Aufbau einer neuen Papierfabrik die Verantwortung zeichnete. Die Arbeit in Arlon war erfolgreich, denn er erhält an der Weltausstellung in Paris 1855 die Medaille der II. Klasse v.a. für die von ihm vorgelegten Papiere aus Pflanzenfasern. Doch bereits 1857 gab Piette die praktische Arbeit im Produktionsbetrieb auf und verlegte seinen Wohnort nach Paris. Hier gründete er ein Beratungsbüro, eine Agence de Papeterie, in der er alle möglichen Druckschriften, Fachbücher, Geräte, Maschinen und Materialien der Papierherstellung vertrieb. Die Erschaffung einer Zentralstelle in Paris kam seiner Fähigkeit als Autor zahlreicher Publikationen besser gelegen, als ein Arbeitsfeld in der Provinz. Hier konnte er sein Ziel einer zentralen Funktion mit Beratung und Unterrichtung der Berufskollegen, verbunden mit einem Publikationsorgan für die Gesamtheit der Papierindustrie verwirklichen.

Unter der Federführung Louis Piettes kam es 1859 in Paris zur Gründung eines französischen Berufs­verbandes, der société Générale da la Papeterie. Piette orientierte sich an seinem deutschen Kollegen und Vorbild Alwin Rudel in Dresden, der zwei Jahre zuvor den Deutschen Verein der Papierfabrikanten als Berufs­verband gründete. Und ebenso wie Alwin Rudel mit seinem Central-Blatt für deutsche Papierfabrikation ein eigenes Publikationsorgan geschaffen hatte, strebte Louis Piette ähnliches für die französische Papierindustrie an. 1854 erschien die erste Ausgabe des Journal des Fabricants de Papier unter der Redaktion von Louis Piette.

Das «Journal des Fabricants de Papier»

Piettes eigene Fachzeitschrift erschien monatlich.  Sie enthielt längere Fachartikel mit technologischem Inhalt, Marktberichte über Rohstoffe, Papier und Pappen, Berichte über Ausstellungen und Messen, Handelsverträge, Zolltarife, Patenterteilungen aber auch Stellen­vermittlungen für leitendes Personal und ganze zum Verkauf angebotene Fabriken.

Seite aus dem Journal des Fabricants de Papier von Louis Piette, 1857. Die aufgeschlagene Doppelseite enthält Papiermuster, denen Pulpe aus Farnstengeln beigesetzt wurde: das Muster auf der rechten Seite oben enthält 90% Farnstengel, 10% Lumpen, das Muster darunder 50% Farnstengel und 50% Lumpen.

Bis zu seinem Tod 1862 behielt Louis Piette die Redaktion seines Journals inne. Er wäre nicht er selber gewesen, hätte er nicht auch das Journal als Publika­tionsort für Muster und Materialproben verwendet. In den sieben Jahren, in denen er das Journal herausgab, wurden insgesamt 220 Mustern und Materialproben, 11 Kupferstiche und 18 Kupferstich-Falttafeln in die Zeitschriftenreihe eingefügt. So finden wir z.B. mit Mustern belegte Reihen, die das Verhalten von Papier unter sukzessiver Beigabe von Kaolin, von Farbstoffen, diverser Pflanzenfasern oder gar von Leder darlegen. Oder Reihen, in denen Lumpen mit Soda und Kalk in verschiedenen Quantitäten und unterschiedlich lang bei einem Druck von 3 bar in geschlossenen Kesseln gekocht wurden.

Durch seine verlegerische Tätigkeit und seine Offenheit, die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen in der Papierindustrie offenzulegen, hat er wesentlich bei der Entwicklung neuer Technologien in der Papierindustrie im 19. jahrhundert beigetragen.   Dass Louis Piette heute aus der Geschichtsschreibung mindestens im deutschen Sprachraum herausgefallen ist, hat sicherlich mit dem Problem der Sprachgrenzen zu tun, denn Piette hat den Grossteil seiner Publikationen auf französisch verfasst. Wie wenig französischsprachige Texte in der deutschen Papiergeschichtsforschung gelesen werden, beweist alleine schon die Tatsache, dass viel über Jacob Christian Schäffers Versuche, die er 1765 bis 1772 in Regensburg herausgab, berichtet wird. Gänzlich unberücksichtigt ist aber, dass besagter Schäffer eine um zahlreiche Proben erweiterte Ausgabe auf Französisch herausgab. Manchmal lohnt es sich eben doch, über den eigenen Tellerrand und die Landesgrenzen hinauszuschauen!