Sprechblasen, Sprachwolken und Spruchbänder
von Anna Vogel
sph-Kontakte Ausgabe Nr. 107| Januar 2020
Das gesprochene Wort in der Buchmalerei
Getrocknete Blumen, Lesezeichen, tote Insekten, kunstvoll gemalte Fabelwesen, ein magisches Quadrat und Anleitungen zum Handlesen – zwischen den Seiten mittelalterlicher Handschriften entdeckte ich während einem Praktikum an der Universitätsbibliothek in Basel die merkwürdigsten Dinge. Besonders fasziniert war ich jedoch, als während eines Vortrags eine eher unscheinbare Handschrift mit einfachen, etwas ungelenk gemalten Federzeichnungen besprochen wurde. Sie enthielt neben den Zeichnungen zahlreiche Vermerke in deutscher Kurrentschrift, teils als Erklärung mit ins Bild gesetzt, teils vom Mund der Sprechenden ausgehend. Das Manuskript trägt den vielversprechenden Titel «Eine kurze Geschichte meines ganzen Lebens» und enthält die Autobiographie eines Handwerkers des 17. Jahrhunderts, die des Kannengiessers Augustin Güntzer (Abb. 1). Die Bilder und Texte erzählen von wichtigen Ereignissen seines Lebens, etwa von seinem Auszug aus seiner Heimatstadt oder davon, wie er einmal beinahe in einem Fluss ertrunken wäre und doch noch gerettet wurde.
Abb. 1 Eine der letzten Szenen der Lebensgeschichte des Kannengiessers Augustin Güntzer zeigt den Protagonisten auf seinem Sterbebett, umgeben von seiner Familie. Universitätsbibliothek Basel, H V 165, fol. 60, 17.Jh.
Damals war ich besonders von der Geschichte fasziniert und machte mir nicht allzu viele Gedanken über die Darstellungsweise. Erst später wurden mir die vielen Parallelen zu modernen Bilderzählungen wie Comic oder Graphic Novel klar: die Vereinfachung der Figuren, die Darstellung mehrerer Handlungsschritte in einem Bild, und nicht zuletzt die teilweise sprechblasenähnliche Anordnung des Textes. Auf diese Ähnlichkeit zwischen historischen Darstellungen von Sprache und modernen Sprechblasen soll in der folgenden Arbeit näher eingegangen werden.
Die ersten «Sprechblasen» ?
Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Begriff «Sprechblase» als Bezeichnung für eine von einem blasenförmigen Rahmen umgebene Äußerung hat sich erst Jahrhunderte nach der Entstehung aller hier besprochenen Handschriften entwickelt.
Heute ist die Unterscheidung zwischen wirklich ausgesprochenen Sätzen und Gedanken fast immer schon von der Form der Sprechblase vorgegeben. Gedanken werden durch ein wolkenförmiges Gebilde mit kleinen Bläschen, die zum Denkenden hinführen dargestellt; laut Ausgesprochenes dagegen wird von einer Sprechblase mit glatten Rändern umrahmt. Die Umrahmung wird so zu einem zusätzlichen Informationsträger, der in den mittelalterlichen Handschriften noch weitgehend fehlt. Diese enthalten jedoch schon wesentliche Elemente der heutigen Codierung von Sprechblasen, wie die Beschränkung auf wenige Sätze innerhalb einer Sprechblase, die weitgehend horizontale Ausrichtung, die Orientierung am Mund des Sprechenden als Ausgangspunkt und nicht zuletzt die Wahl einer zum Malstil passenden Schriftart.
Bereits im aztekischen Codex Mendoza wird das gesprochene Wort von einem Wölkchen vor dem Mund des Sprechers symbolisiert (Abb. 2). Was genau der Dargestellte mitzuteilen hat, ist diesem Symbol jedoch nicht zu entnehmen. Hier geht es eher darum, Sprache an sich darzustellen, anstatt das Gesprochene selbst mitzuteilen. Eine «Sprechblase» ist also vorhanden, allerdings noch ohne Inhalt.
Abb. 2 Darstellung einer «Sprachwolke» im Codex Mendoza, Bodleian Library Oxford, MS. Arch. Selden. A. 1, fol.10r, 1542.
Abb. 3: Von zwei kleinen Teufeln umgebene Person, die ein Spruchband mit den Worten «Es gibt keinen Gott» (non est deus) hält. Los Angeles, Getty Museum, MS 66, fol. 56r, nach 1205.
Abb. 4 Personen mit Spruchbändern. In der Stickerei des Wandteppichs ist angegeben, um welche biblischen
Textstellen es sich handelt: «PAULUS AD CORINTHIOS EPISTOLAE» (Briefe des Paulus an die Korinther), Paris, BnF, lat. 11978, fol. 39r, 15. Jh.
Spruchbänder
Eine weitere, im Mittelalter rege genutzte Möglichkeit, Sprache sichtbar zu machen, besteht darin, Spruchbänder in die bildliche Darstellung einzufügen (Abb. 3 und 4). Diese Spruchbänder erinnern in ihrer langgezogenen Form entfernt an antike Schriftrollen und werden vom Sprechenden entweder in der Hand gehalten oder – in diesem Fall kommen sie modernen Sprechblasen noch näher – gehen vom Mund der Sprechenden aus. Spruchbänder dienten, neben ihrer selteneren Funktion als Träger von Gesprochenem, auch der Beschriftung bestimmter Personen und Orte und wurden nicht nur in der Buchmalerei, sondern auch in der Tafel- und Wandmalerei häufig eingesetzt.
Sprechblasen ohne Umrahmung
Den heutigen Sprechblasen noch näher kommen die Diskussionsaufzeichnungen in einem heute in der badischen Landesbibliothek aufbewahrten Codex mit dem sperrigen Namen «Electorium Parvum seu Breviculum » (Abb. 5). Er enthält neben dem Fliesstext zwölf Miniaturen mit Darstellungen aus dem Leben des katalanischen Philosophen Raimundus Lullus. Besonders interessant sind dabei die Miniaturen, bei denen in die Darstellung auch geschriebene Sätze mit den Aussagen der Personen eingefügt sind. Diesen personenbezogenen Sätzen fehlen zwar immer noch die für Sprechblasen typischen Umrandungen, in Form und Ausrichtung kommen sie ihnen aber extrem nahe. Die Sätze sind vom Mund des Sprechers ausgehend in teils abenteuerlicher Ausrichtung nach oben oder unten gewölbt geschrieben. Zur besseren Verständlichkeit wurden zwei verschiedene Farben (Zinnobertusche und die normale Schreibtinte) gewählt, mit denen die einzelnen Abschnitte vom Lesenden klar voneinander unterschieden werden können. Durch Kleinbuchstaben wird auf zusätzliche kommentierende Vermerke am Rand hingewiesen.
Eine ähnliche Art der Darstellung findet sich in einer Legenda aurea-Handschrift der British Library (Abb 6). Auch dort ist das Gespräch der Personen in Sätzen, die vom Mund der jeweiligen Person ausgehen, aufgezeichnet: Die erste Person von links beginnt mit dem seltsamen Ausruf: «Sie sterben wegen der Hitze, sie sterben wegen der Hitze!». Die zwei Figuren dahinter entgegnen: «Sire, wir sterben wegen der Kälte». Vielleicht sprechen sie dabei zu der Person hinter ihnen, möglicherweise ihr Vater. Dieser mahnt: «Schaut auf euren kleinen Bruder vor euch, er trägt nur einen Hut». Das stimmt, die vorderste Person trägt wirklich nur einen Hut. Das Kleinkind auf seinem Rücken brabbelt in Kindersprache: «Wa we». Die Figur hinter ihm beschwert sich: «Sire, ich trage zu viel Gewicht». Woraufhin die letzte Person sich mit seinem Bruder und seinem Vater vergleicht: «Es sind nicht sie, die die größte Last zu tragen haben.»
Abb. 5 Diskussion zwischen einem Schüler und seinem Lehrer. Die links stehenden Argumente des Schülers sind im Sinne der besseren Zuordnung teils kopfüber angeordnet. Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St Peter Perg. 92, fol. 11v, 14.Jh.
Abb. 6 Darstellung von Sprache in einer Handschrift aus der British Library, Stowe MS 49, fol. 122r, 14.Jh.
Abb. 7 Federzeichnung mit dem Schreiber Hildebertus und seinem Gehilfen Everwinus. In: Augustinus «De civitate dei», Knihovna Metropolitni Kapituli, Ms. A XXI/1, fol. 153r, um 1140.
Eine zusätzliche Linie sorgt dafür, dass die Schrift etwas über den Köpfen platziert werden konnte und dennoch eindeutig zuordenbar bleibt. Durch diesen Trick sind keine Verrenkungen im Schriftbild nötig: Der Text kann, anders als in dem oben besprochnen Codex, waagerecht angeordnet werden. Während der Leser dort beim Studieren wohl manchmal gezwungen war, das Buch zu drehen, um die teils über Kopf geschriebenen Sätze lesen zu können, ist dies bei der Handschrift aus der British Library nicht notwendig.
Diese klare Zuordnung der Schrift – gemeinsam mit der starken Vereinfachung und Karikierung der Figuren, der reduzierten Farbwahl (rote und braune Tinte) und der linearen Schrift – kommt modernen Comics erstaunlich nahe.
Geschrieben, gesprochen oder gedacht?
Zum Abschluss soll hier noch kurz auf eine spezielle Art, gesprochene (oder gedachte?) Rede sichtbar zu machen, eingegangen werden. Aus zahlreichen Handschriften sind sogenannte «Schreiberbilder» überliefert, die den Schreiber mit seinen Schreibutensilien am Pult sitzend zeigen (Abb. 7). Um ein solches Schreiberbild scheint es sich auf den ersten Blick auch bei der Federzeichnung in einer Handschrift aus der Kapitelbibliothek in Prag zu handeln: Der Schreiber «Hildebertus» sitzt an einem Schreibpult, in das Federn und zwei Tintenhörner eingesteckt sind. Vor ihm liegt aufgeschlagen das Buch, an dem er soeben gearbeitet hat. Auf einem Hocker auf dem Boden sitzt sein Geselle Everwinus, der sich im Malen von Ranken übt. Der Blick des Schreibers ist jedoch weder auf seinen Gesellen, noch auf das zu schreibende Manuskript gerichtet. Er schaut hinter sich auf seinen Tisch («mensa Hildeberti»). Auf diesen ist soeben eine Maus gesprungen und knabbert nun an einem Stück Käse. Seinen Ärger darüber hat Hildebertus in dem vor ihm liegenden Buch festgehalten: «Pessime mus, sepius me provocas ad iram, ut te deus perdat!» (Verfluchte Maus, oft genug bringst du mich in Zorn, möge Gott dich vernichten!)
Ob Hildebertus dies wirklich ausgesprochen hat, bleibt unklar. Wahrscheinlicher ist, dass er den Fluch in der Stille des Skriptoriums lieber für sich behalten hat.
Literatur
- De Hamel, Christopher: Meetings with remarkable manuscripts, Penguin Random House, UK, 2016
- Jakobi, Christine: Buchmalerei. Ihre Terminologie in der Kunstgeschichte, Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 1991
- Mittler, Elmar: Bibliotheca Palatina, Heidelberger Bibliotheksschriften 24, Edition Braus, Heidelberg, 1986
- Stammberger, Ralf M. W.: Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften, Akademische Druck und Verlagsanstalt, Graz, 2003
- Trost, Vera: Skriptorium, Belser Verlag, Stuttgart, 2011