Papiermühlen in Canobbio
von Graziano Gianinazzi
sph-Kontakte Nr. 88 | Dezember 2008
Die hier skizzierte regionale Übersicht betrifft die Tätigkeitsperiode von zwei Jahrhunderten (Ende des 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts) der Papierfabrik Fumagalli in Canobbio nördlich von Lugano.
Die Papiermühle der Fumagalli in Canobbio (Cartiera Vecchia) ist eine Gründung der Familie Pocobelli. Die Pocobelli gehörten ab 1500 während mindestens vier Jahrhunderten zu den wichtigsten Familien Luganos. Diese Familie stammte aus Melide und hatte im Laufe der Zeit mehrere bedeutende Politiker, Offiziere und Geistliche hervorgebracht. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gehörten ihr zudem rund 12 % des Gemeindegebietes, meist Ackerland. Zu diesen Besitzungen zählte auch ein Maglio in Canobbio, ein Hammerwerk. Zu erwähnen ist, dass anfangs 1700 im Cassaratetal bei Canobbio einst fünf Hammerwerke existierten, die einzigen in der Region Lugano. Heute sind auch ihre letzten Überreste verschwunden. Die Räder wurden durch zwei Wasserkanäle angetrieben.
Bereits um 1630 begannen die Pfarreien im Tessin, gemäss den Beschlüssen des Konzils von Trient, mit der regelmässigen Führung von Registern über Geburten, Eheschliessungen und Todesfälle. Das benötigte Papier bezog man zu diesem Zeitpunkt in Lecco, Bellano, Bergamo und Como, wie Wasserzeichen in Dokumenten der lokalen Archive zeigen. Einiges Papier lieferten auch die Papiermühle Bena von Mendrisio sowie zwei weitere in Brogeda, an den Flüssen Breggia und Faloppia an der südlichen Grenze zu Italien. Diese Mühlen produzierten nur bis in die zweite Hälfte des 16. Jh. und verkauften ihr Papier vor allem im Mendrisiotto. In den frühen Jahren des 18. Jh. herrschte in der Region ein akuter Papiermangel, denn Notare, Schriftsteller, lokale Behörden und regionale Gemeinden verlangten mehr und mehr Papier. Durch immer höhere Einfuhrzölle stiegen jedoch die Kosten für das Papier aus dem Ausland. Nun sahen die Pocobelli ihre Chance gekommen und bauten ihr Hammerwerk in eine Papiermühle um: die Cartiera Vecchia
Die Fumagalli in Canobbio
Bereits am Ende des 17. Jh. trafen vier Mitglieder der Familie Fumagalli in Canobbio ein: Leonardo und seine drei Söhne. Sie waren Papiermacher aus Castiglione di Lecco, aus dem Ortsteil Rancio oberhalb des Comersees, am Übergang von Bayern und Tirol in die Lombardei. Leonardo war Papiermacher-Meister in einer Papiermühle in Lecco, und arbeitete sodann in der Papiermühle der Familie Denti in Bellano auf eigene Rechnung, wie ein Wasserzeichen von 1679 mit dem Emblem des Hahns verrät. Die Fumagalli waren Pächter der Pocobelli. Unverzüglich wandelten sie das Hammerwerk in eine Papiermühle um. Wasser war reichlich vorhanden und sauber genug für die Herstellung von verkaufsfähigem Papier. Das Land um Canobbio bot zudem besonders geeigneten Boden für den Anbau von Hanf und Leinen, Ersatzstoffe für Baumwolle und das wichtigste Ausgangmaterial für die Existenz einer Papiermühle.
Erste Zeugnisse einer Produktion der Fumagalli sind Papiere mit Wasserzeichen aus dem Jahr 1712. Ab 1716 zeigen die Wasserzeichen die Kartusche, welche die Fumagalli bereits in Bergamo, Lecco und anderswo führten.
Der Buchdruck im Tessin
Im Jahre 1746 eröffnete die Mailänder Familie Agnelli in Lugano die erste Buchdruckerei. Ein wichtiges Datum, denn es steht für den Anfang des Buchdrucks in Lugano. Es wird vermutet, dass die Pocobelli als Betreiber der Papiermühle die Druckerei als idealen Kunden gesehen haben dürften. Die Fumagalli lieferten nämlich, sicher mit dem Segen der Pocobelli, den Agnelli ihr Papier für alle Arten von Drucken: offizielle Drucksachen des Kantons, politische oder religiöse Schriften.
Die Agnelli druckten auch die Gazzetta di Lugano, die erste Zeitung im Tessin, welche als Wochenzeitung erstmals 1746 erschien. Die erste Zeitung der Schweiz wurde 1611 in Basel veröffentlicht, in Italien erschien die Gazzetta di Venezia erstmals 1580.
Da Lugano unter der Gemeinen Herrschaft der Eidgenossen stand, wurde der Gazzetta di Lugano verboten, über lokale Ereignisse und Intoleranz gegenüber der Regierung zu berichten (erst 1799 wurde der Kanton Tessin gegründet), wodurch kaum über Lokales berichtet wurde. Dafür aber erschienen detaillierte Auslandsberichte, wodurch die Gazetta vor allem in Italien geschätzt und gelesen wurde. Die österreichische Regierung in Mailand begünstigte die Luganeser Drucker wegen ihrer Broschüren, die heimlich in Italien verbreitet wurden und den Hass der Jesuiten hervorriefen.
Der Papierverbrauch stieg deutlich an. Gemäss einer Zählung aus dem Jahre 1830, also weniger als hundert Jahre nach der Gründung der ersten Drucker-ei, bestanden im Tessin bereits sieben Drucker-eien: drei in Lugano und je eine in Capolago, in Magliaso, in Mendrisio und in Bellinzona. Die Fumagalli konnten diesen Bedarf nicht voll befriedigen, und so gründete Bettelini, einer ihrer Mitarbeiter im Jahre 1759 eine Papiermühle in Magliaso, wo es noch genug Lumpen gab.
Die politische Situation im Tessin nach 1800
Anfangs des 19. Jahrhunderts, in Zusammenhang mit der Gründung des neuen Kantons, haben im Tessin zwei politische Parteien ihren Ursprung, die noch heute im Grossen und Ganzen existieren: die Moderati (die Gemässigten, heute CVP), die der Kirche nahe standen und zum grössten Teil auf dem Land verbreitet waren, und die Liberali-Radicali, (Liberal-Radikalen, heute FDP) die damals den Prinzipien der Jakobinern nahe standen. Die letzteren waren besonders in den Städten tätig. Kritisch der Eidgenossenschaft und der Kirche gegenüber plädierten sie auch für die Abschaffung der zahlreichen Klöster. Die Fumagalli gehörten zu den Gemässigten. Der Pfarrer Giuseppe Fumagalli von Canobbio, Mitbesitzer der Papierfabrik, war eine herausragende politische Persönlichkeit: gebildet, intelligent und ein brillanter Redner, der nicht gerne Kompromisse einging. Er wurde 1839 zum Präsidenten des Tessiner Grossen Rates gewählt, als sich die politische Lage zuspitzte und eine Revolution ausbrach. Die Opposition der Liberal-Radikalen machte Fumagalli und die Ratsmitglieder der konservativen Regierung zu Sündenböcken. Des Verrats angeklagt, wurde er zu 5 Jahren Zwangsarbeit, der Zurschaustellung am Pranger und der Beschlagnahme all seiner Besitztümer verurteilt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als rechtzeitig die Grenze zu passieren und nach Rom zu flüchten, wo ihn Papst Pius IX zum Pfarrer von Castelgandolfo ernannte, und wo sein Bruder, ein Architekt, für eine adlige römische Familie arbeitete. Erst zehn Jahre später kehrte Giuseppe Fumagalli nach Canobbio zurück.
Die Papierfabrik von Magliaso
Im Jahre 1759 beginnt in Magliaso die Familie Bettelini ebenfalls mit der Produktion von Papier – 60 Jahre nach den Fumagalli. Die Bettelini gehörten der Partei der Liberali-Radicali an, wie die Buchdrucker Agnelli in Lugano. Ab 1799 bezogen die Agnelli ihr Papier ausschliesslich bei den Bettelini und nicht mehr bei den Fumagalli, die dadurch ihren besten Kunden verloren. Die Bette-lini hielten sich nicht an die vereinbarten Lumpen-rechte und Preisabsprachen. Dadurch kam es zu Gewalt-tätigkeiten zwischen den beiden Papier-mühlen und zu einem Aufstande, den die gegnerische Partei ausnützte, und der noch im gleichen Jahr in der Zerstörung der Buchdruckerei der Agnelli in Lugano gipfelte. Dabei wurde der pro-französische Herausgeber der Gazzetta, Giuseppe Vanelli, getötet. Am Aufstand beteiligte sich auch ein Fumagalli, der bei der Plünderung der Druckerei neun Bücher an sich nahm, die er nach dem Prozess gegen ihn und seine Glaubensgenossen zurückerstatten musste.
Zwei Monate später erlebte das Tessin eine Invasion von Napoleons Truppen, auf dem Rückzug vor einem wachsenden österreichisch-russischen Heer. Mindestens theoretisch wurde dem Tessin durch die Mediationsakte Napoleons von 1803 erlaubt, sich als freier Schweizer Kanton zu präsentieren, nach drei Jahrhunderten unter dem Joch der Eidgenossen.
Es sei darauf hingewiesen, dass 1786 Rudolf Schinz, ein protestantischer Pfarrer und Freund des damaligen Landvogts, jede Ecke des Tessins besuchte und darüber einen Bericht in den «Beyträgen des Schweizerlandes» in Zürich bei Füssli publizierte. Darin sagt er: «in der Papiermühle im Lauiser- Thal wird schönes blaues Papier gemacht». Er bezieht sich dabei auf die Produktion der Fumagalli. Zu ihren Produkten zählten übrigens auch Tarot-Karten.
Eine neue Papierfabrik in Canobbio: die Cartiera Nuova
Im Jahre 1875 wurde erneut in Canobbio eine Hammerschmiede in eine Papierfabrik umgebaut. Ihr Besitzer war Alessio Bernasconi, ein enger Verwandter der Fumagalli, der in Chiasso Erfahrungen als Papiermacher gesammelt hatte (vgl. Abb. S. 10).
Die «Neue Papiermühle» (Cartiera Nuova) befand sich im Ortsteil Domisasca am rechten Wasser-kanal, an der auch die Papiermühle der Fumagalli lag die nunmehr den Namen «die alte Papiermühle» (Cartiera Vecchia) trug. Die Bernasconi verwendeten für ihre Papiere offenbar keine Wasser-zeichen und ihre Produktion erfolgte hauptsächlich auf einer Langsiebmaschine (Donkin).
Das Ende der Papierfabriken von Canobbio
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Cartiera Vecchia der Fumagalli und die Cartiera Nuova unter den Bernasconi aufgrund zu niedriger Produktivität wegen antiquierter Produktionsmethoden stillgelegt. In den letzten Jahren hatten sich die Fumagalli vor allem auf andere Aktivitäten konzentriert: eine Ziegelei für das lokale Baumaterial, eine Tabak-Fabrik sowie die Produktion von Raps und Schnupftabak, der zu dieser Zeit sehr in Mode war. Sie entfernten das alte Wasserrad, und installierten zwei Turbinen, mit denen sie ab 1906 Strom für die Strassenbeleuchtung Canobbios, für das Schloss Trevano und den Sitzungssaal der Gemeinde produzierten. Lugano wurde erst ein Jahr später, 1907, elektrifiziert.
Die Papierfabrik in Canobbio zog viele Arbeiter an, vor allem aus dem nahen Italien. Einer der letzten Arbeitnehmer war ein politischer Flüchtling, der dann für zwanzig Jahre das Schicksal Italiens bestimmen sollte: Benito Mussolini, dessen Name und Unterschrift im Lohnregister der Fumagalli steht. Das Dokument ist leider verschwunden, wie viele Relikte der industriellen Vergangenheit des 19. Jahrhunderts in Canobbio. Auch die Dynastie der Papiermacher Fumagalli verschwand mit ihnen.
Die Papierfabriken der Fumagalli und Bernasconi gingen an die Papierfabrik Maffioretti in Tenero, Nachfolger der Gründerfamilie Franzoni. Maffioretti hielt die Produktion für einige Jahre mit der Herstellung von Pappe aufrecht. Die Papier-fabrik in Magliaso hatte bereits 1875 ihren Betrieb eingestellt. Die beiden Papiermühlen in Mendrisio waren zwischen 1770 und 1792 geschlossen worden; Brogeda, in der Nähe von Chiasso, in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts.
Carlo Fumagalli, ein kompetenter Bibliophile
Zum Schluss sei noch an einem Beispiel erwähnt, wie eng die Familie Fumagalli in Canobbio dem Papier verbunden war. Carlo Fumagalli, geboren 1839, war ein talentierter Bibliophile und besass eine der besten Bibliotheken des Tessins. 1875 fand er in Mailand bei einem Antiquar ein altes Buch aus einer reichen Bibliothek der Lombardei, das auf den ersten Blick sehr selten zu sein schien. Er kaufte es für wenig Geld. Es war der Druck eines Werkes von Cicero. Es ist heute erwiesen, dass es sich um das erste in Italien gedruckte Buch handelte, das der Kardinal Torquemada im Kloster von Subiaco, unweit von Rom, drucken liess. Dieser Kirchenfürst hatte zwei Drucker aus Deutschland dorthin kommen lassen, um die neue Technik der Kirche dienstbar zu machen. Bis dahin ging man davon aus, dass das erste in Italien gedruckte Buch in Subiaco im Oktober 1465 gedruckt worden war, ein Werk des Laktanz, eines christlichen Schriftstellers des 3.–4. Jahrhunderts. Nachzutragen ist, dass die in Geldnot geratenen Erben Fumagallis 1866 das kostbare Werk für einen lächerlichen Betrag verscherbelten.
Einige Wasserzeichen der Fumagalli aus Lugano