Ein weiterer Erfinder des Papiers?

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von Peter F. Tschudin, Riehen

sph-Kontakte Nr. 89 | Juli 2009

Was Homer für den Trojanischen Krieg, bedeutet Henri Pourrat für die alte Handpapiermacherei der Auvergne. In zahlreichen Werken und in epischer Breite hat er sie von allen Seiten beleuchtet, wohl informiert und mit der oralen Tradition der auvergnatischen «Compagnons de la Feuille Blanche» bestens vertraut. Umso mehr stutzt man, wenn man das Kapitel «Les fastes» seines Werkes Dans l’herbe des trois vallées liest, in dem er sich ironisch-kritisch zu den Papiermacherlegenden, aber auch zu den Meinungen der französischen Papierhistoriker seiner Zeit äussert. Steht doch da schwarz auf weiss: «Leurs annales attribuent cette invention à Mough-Tian, l’un des généraux de Shi-Hoang-ti».

Also ein weiterer Erfinder des Papiers? Dazu einer, der in den neuesten Arbeiten zur Frühgeschichte des Papiers, sowohl den chinesischen als auch den amerikanischen und europäischen, nicht einmal andeutungs-weise er–wähnt wird? Einer, dessen Zeitstellung (Ende 3. Jh. v. Chr.) gewissermassen den schriftlich fest-gehal-tenen Beweis für die Echtheit der frühesten Papierfunde in China aus der Zeit vor Ts’ai Lun erbringen könnte? Fragen über Fragen!

Die Neugier ist geweckt. Was steckt hinter dieser Mitteilung? Pourrat nennt immerhin die «Annalen» und den «Ersten Kaiser», scheint also auf die «Historischen Denkwürdigkeiten» (Shih Chi) des Sima Qian, verfasst um 90 v. Chr., zu verweisen. Da Pourrat des Chinesischen nicht mächtig war, muss er seine Information einer französischen Übersetzung entnommen haben. In der Tat ist der Text des Shih Chi in französischer Übersetzung mit ausführlichem Kommentar durch den grossen Sinologen Edouard Chavannes 1895 herausgegeben worden. Doch findet sich darin wohl der richtige Name des Generals, Meng Tian, aber keinerlei Anspielung auf eine Erfindung des Papiers.

Bleiben als mögliche Quellen Pourrats die Schriften französischer Papierhistoriker. Da aber auch sie keine Chinesisch-Kenntnisse besassen, muss man als deren Quelle eine am ehesten in Französisch abgefasste, vor 1940 erschienene Schrift eines Sinologen zum Thema vermuten. Und wirklich: Edouard Chavannes hat im Aufsatz «Les livres chinois avant l’invention du papier» den ältesten chinesischen Text zu Meng Tians Erfindung mit französischer Übersetzung wiedergegeben. Das Zitat stammt aus einem Kommentar des 7. Jh. n. Chr. zum Chou Li. Der hier interessierende Textteil lautet in deutscher Übersetzung: «Zur Zeit der Han erfand Ts’ai Lun das Papier und Meng Tian den Schreibpinsel». Expliziter äussert sich eine Glosse in der Ausgabe des Chou Li von 1748: zum Wort «pi» (Schreibholz): «Meng Tian hat nicht als erster das Schreibholz erfunden. […] Sehr wahrscheinlich hat man in alter Zeit lediglich ein Stück Bambus benützt; deshalb ist das Schriftzeichen für «pi» mit dem Bambuszeichen gebildet. Meng Tian hat aber Tierhaare verwendet.» Damit ist klar, dass der noch heute zumindest für die Kalligraphie im Gebrauch stehende Schreibpinsel als die Erfindung Meng Tians angesehen werden muss. Chavannes fügt noch weitere, spätere Kommentare bei und zieht daraus Schlüsse über die Verwendung von Seide und Holz (Bambus) als Schreibmaterial seit dem chinesischen Altertum bis über die Zeit Ts’ai Luns hinaus. Ein flüchtiger Leser kann durchaus auf die Idee kommen, den von Chavannes zitierten Text des Qia Kong-yen im Durcheinander der Zitate aus Hou Han Shu etc. misszuverstehen und daraus den Schluss zu ziehen, schon Meng Tian habe das Papier erfunden. Henri Pourrat bemerkt weiter, nicht ohne ironischen Unterton, dass der drei Jahrhundert später lebende Ts’ai Lun folglich «als erster daran gedacht hat, Bambus in einem Mörser zu zerstampfen», wiederum eine Klitterung verschiedenster Informationen.

Oder gibt es noch eine andere «Schiene», die von Pourrat zu Mough-Tian führt? Eine der bekanntesten französischen Darstellungen der Papiergeschichte, das häufig zitierte Werk von André Blum «La Route du Papier», enthält ebenfalls diese sonder-bare Schreibung des Feldherrnnamens mit der Zu-schreibung der Papiererfindung und ver-weist auf den französischen Sinologen und Kulturhistoriker G. Pauthier, der seinerseits eine Literatur-Enzyklopädie der Tang-Zeit zitiert, die sich auf die Memoiren der Han-Kaiserin Hou (187–180 v. Chr.) beruft…

Und die Moral von der Geschicht? Papier-geschichte erinnert zuweilen an das beliebte Kinder-spiel «Ohrenblasen» oder den Ab-schreibe-Schulsport.