Ein neuer Blick auf alte Werke – Biologische Hermeneutik

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von Sarah Craske *

sph-Kontakte Nr. 105 | Juli 2018

Eine neue Allianz aus Naturwissenschaft und Kunst eröffnet ungeahnte Lesarten von Büchern und Texten. Sarah Craskes Arbeiten zur «Biologischen Hermeneutik» sind erste Projekte dieser Form der Transdisziplinarität.

* Übersetzt und gekürzt von Martin Kluge. Die vollständige englische Version finden Sie auf www.papierhistoriker.ch

In den letzten zehn Jahren haben Bibliotheken und Archive einen grossen Veränderungsprozess durchlaufen. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit hat sich die Technik in dieser Zeit entwickelt, und ebenso rasant veränderte sich unsere Beziehung zum Wissen. In diesem Prozess, in dem uns Daten immer schneller zur Verfügung stehen, muss Wissen stets neu definiert werden. Der Zugang zu und der Erhalt des Wissenschatzes verlagert sich dabei zunehmend von der realen in die virtuelle Welt.

Heute verstehen sich Bibliotheken als interdisziplinäre Forschungseinrichtungen, in denen wissensbasierte Objekte archiviert werden – aber ebenso als Andockstellen an einen digitalen Informationshighway. Immer dann, wenn Archivmaterial digitalisiert wird, bewegen sich diese beiden Hauptstützen im Wissenstransfer aufeinander zu. Und mit der Zunahme an digitalisiertem Material drängt sich die Frage auf, welche Beziehung wir in Zukunft zu unseren physischen Archiven haben werden. Werden sie künftig noch irgendeinen Wert haben? Ein pessimistischer Prophet mag vor einer digitalen Welt warnen, in der physische Objekte nach der Digitalisierung nicht länger aufbewahrt, sondern entsorgt werden, da ihr wahrgenommener Wert als verloren gelte.

Die biologische Hermeneutik fragt nach den Beziehungen zwischen dem Digitalisat und dem physischen Objekt und erforscht die in Texten physisch enthaltenen Informationen. Die Prämisse der biologischen Hermeneutik ist, dass neben den wortbezogenen Informationen aus dem Original noch weitere Daten ‹auszulesen› sind, die ihm physisch eingeschrieben sind. AUs dieser Konzeption ergibt sich ein Verständnis von Bücher als Zentren der mikrobiellen Daten und Datenübertragung. Mit einer solcherart veränderten Sichtweise können wir unsere traditionelle Art zu sammeln und zu klassifizieren überwinden und zu neuen Wissens- und Verständnissystemen gelangen.

Zur Entstehung der «Biologischen Hermeneutik»

In einer schummrigen Ecke eines Trödelladens in East Kent stolperte die Künstlerin Sarah Craske im Jahr 2010 über eine zweisprachige Ausgabe von Ovids Metamorphosen aus dem Jahr 1735. In den fast 300 Jahren seiner Existenz wanderte das Buch von Hand zu Hand, und eine jede hinterliess Bakterien, Viren und Hautzellen darin. Sicher erzählten diese Mikroorganismen, genauso wie die Protagonisten in den Erzählungen Ovids, eine Geschichte von Transformationen, eben die biologischen Transformationen des Buches selbst.

Im Gespräch mit den Wissenschaftlern Dr. Simon Park, Senior Lecturer in Molecular Biology, und Dr. Charlotte Sleigh, Professor of Science Humanities, erkannte Craske schnell, dass das Buch sowohl biologisches, geisteswissenschaftliches und künstlerisches Wissen vereint und insofern eine ideale Metapher ist für die Art und Weise, wie sich Kunst und Wissenschaft miteinander vereinen lassen. Ovids Metamorphosen wurden so selbst zu einem Modell für die durch das physische Buch bewirkten methodischen Transformationen.

Im Jahr 2014 wurde die Biologische Hermeneutik mit dem «Science In Culture Innovation Award (UK)» des Arts and Humanities Research Council ausgezeichnet. Von 2014 bis 2017 arbeiteten Craske, Park and Sleigh an einer Ausstellung zur hybriden Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft.

Die Herangehensweise

Gemeinsam erstellte das Team eine dreistufige Vorgehensweise: In einem ersten Schritt wurde ein gemeinsamer sprachlicher Boden zwischen den Disziplinen gelegt und Bereiche des gegenseitigen Unverständnisses ausgelotet. Dazu mussten die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen künstlerischer und naturwissenschaftlicher Fragestellung erfasst werden.

In einem zweite Schritt wurden die biologischhermeneutische Fragen an die Metamorphosen-Ausgabe von 1735 ausgearbeitet: Wie lässt sich das Werk als ästhetisches, textuelles und biologisches Artefakt untersuchen? Wie lassen sich die Ergebnisse in einer immersiven, dialogischen Installation kommunizieren? In einem dritten Schritt ging es darum, spezifische Forschungsfragen an den jeweils anderen Forschungspartner zu stellen. Vonseiten der Künstlerin Sarah Craske waren dies die folgenden:

• Können Ovids Erzählungen durch eine Untersuchung des biologischen Artefakts neu interpretiert werden?
• Welche Materialien erfuhren bei der Buchherstellung eine Metamorphose, und können wir aus der Tinte, dem Papier oder dem Bucheinband genetische Sequenzen dieser Verwandlungen extrahieren? Was würde uns dies sagen?
• Können wir diese Metamorphoseprozesse, die bei der Entstehung des Buches eine Rolle spielten, in irgendeiner Weise «umkehren»: Lässt sich aus dem Artefakt eine Welt erschliessen, in der Teile der Flora und Fauna wiederbelebt werden, aus der das Buch einst gemacht wurde?
• Lässt sich aus Ovids Text ein spezifischer genetischer Code extrahieren? Und was offenbaren diese identifizierbaren Sequenzen aus Texten, die vor mehr als 2000 Jahren geschrieben wurden?

Vonseiten des Wissenschaftlers Dr. Simon Park stellten sich folgende Fragen an das Projekt:

• Lassen sich mikrobiologische Wachstumsmedien mit den Buchseiten imprägnieren, dass auf ihnen eine lebendige Karte der mikrobiologischen Geschichte der Seite sichtbar wird? Lassen sich lange verlorene Bakterienstämme aus dem 18. Jahrhundert wiederbeleben?
• Welche Aussagen lassen sich mit Metagenomik und Oberflächenröntgenanalyse über die Materialien machen, aus denen das Buch gefertigt wurde? Wer hat es über die Jahrhunderte hinweg berührt?
• Was kann die Metagenomik über das Mikrobiom der Seite aussagen (über die vielfältige Mikroflora der Seiten, die diese langsam verdauen wird)?
• Inwieweit kann eine Oberflächenröntgenanalyse aufzeigen, welche Bereiche des Buches im Laufe der Jahrhunderte am häufigsten berührt wurden?

Über einen Zeitraum von zwei Jahren arbeiteten Sarah Craske und Simon Park, begleitet von Charlotte Sleigh zusammen. In jeder Forschungsphase stimmten die beiden ihr Vorgehen ab und dokumentierten Argumente und Kompromisse durch Tonaufnahmen.

Biologisch-hermeneutischer Druck

Schon früh entstand aus dieser Zusammenarbeit ein Verfahren, die Craske und Park biologischhermeneutisches Drucken nannten. Das Ziel dieses Verfahrens war es, lebensfähige Bakterien so von den Druckseiten zu isolieren und wiederzubeleben, dass ihr Vorkommen auf dem Originalblatt sichtbar wird. Dazu gossen sie geschmolzenen Blutagar in Petrischalen und liessen ihn abbinden. Blutagar ermöglicht auch das Wachstum von anspruchsvolleren Arten wie beschädigte Bakterienzellen oder Bakterienstämme aus dem 18. Jahrhundert. Nun wurden Seiten des dritten Buchs von Ovids Metamorphosen von 1735 auf die aseptische Oberfläche des Agars aufgelegt. Nach 20 Sekunden wurden die Seiten entfernt und die Platten bei 25 ° C für mindestens eine Woche inkubiert, um das Wachstum von umweltbedingten wie auch krankheitserregenden Bakterien zu ermöglichen. Dort, wo Bakterienzellen von den alten Buchseiten auf den Agar übertragen wurden, vermehrten sich diese mikroskopischen Zellen mit der Zeit zu sichtbaren Kolonien. Um ihre komplexen Strukturen vollständig ausbilden zu können, mussten sich die Kolonien noch über mehrere Monate weiter entwickeln.

Die so auf dem Blutagar sichtbar gewordenen Kolonien sind Klone der ursprünglichen Zelle, die jetzt Milliarden von Einzelbakterien enthalten. Vereinfacht gesagt ist jede Bakterienzelle zu Beginn eine Ansammlung von spezifischen Informationen, die durch die DNA der Zelle kodiert sind. Werden diese zum Wachstum angeregt, vermehren sie sich in einer grossen Formenvielfalt – für jeden Bakterienstamm spezifisch – und werden auf dem Abdruck sichtbar.

Als ein völlig unerwartetes und zufälliges Ergebnis stellte sich heraus, dass die alten Buchseiten nicht nur ihre Bakterien auf dem Agar übertrugen, sondern dass bei diesem Verfahren auch die Vertiefungen des Buchdrucks, die vor 300 Jahren beim Drucken entstanden, auf der Agraroberfläche sichtbar wurden. Der Agar war nicht nur in der Lage, alte biologische Informationen wiederzugewinnen, sondern bildete die Seite auch körperlich ab.

Wissenschaftliche Ergebnisse

Tatsächlich waren die Seiten des Buches mit unsichtbarem bakteriellem Leben gefüllt, wobei jeder Seitenabdruck Hunderte von Bakterienkolonien hervorrief. Von diesen wurden insgesamt 25 Kolonien mit je unterschiedlicher Morphologie zur genaueren Identifizierung ausgewählt (die Anzahl wurde durch die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel bestimmt). Die genomische DNA der einzelnen Bakterienstämme wurde isoliert und mittels RNAPolymerase zu sogenannten 16S-rRNA-Amplikons vervielfältigt. Um die Bakterien zu identifizieren, wurde die DNA-Sequenz der 16S-rRNA-Amplikons mittels Sanger-Kapillarelektrophorese-Sequenzierung bestimmt und die Sequenzen daraufhin mit bestehenden 16S-rRNA-Datenbanken abgeglichen.

Die vielen bakteriellen Genomsequenzen, welche die Buchseiten infiltrieren, erweisen sich als eine eigene Sprache. Das Buch erzählt über seine Geschichte in Form einer genetischen Sprache, deren Aufbau auf dem Wechselspiel von nur vier DNA-Basenpaaren basiert, die wissenschaftlich durch die Buchstaben A, T, G, C dargestellt werden. Jedes Bakterium ist viele Millionen dieser Basenpaare lang.

Betrachtet man die Geschichte des Buches und berücksichtigt die Tatsache, dass sein Papier aus Stoff hergestellt wurde, und insbesondere, dass die Seiten aus Kleidern von Menschen hergestellt worden sein könnten, die in Krankenhäusern des 18. Jahrhunderts gestorben waren, wäre es denkbar, dass einige notorische Krankheitserreger noch immer auf den Seiten liegen. Gleichwohl wurden solche Bakterien nicht isoliert. Dies könnte an der anspruchsvollen Natur krankheitserregender Bakterien liegen und der Tatsache, dass viele von ihnen ausserhalb des menschlichen Wirts nicht lange überleben. Zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass nur eine kleine Zahl von Kolonien isoliert wurde, verglichen mit den Hunderten von Kolonien, die aus den Seiten gewachsen sind.

Während unter den isolierten Baktierenstämmen keine Pathogene (Krankheitserreger) identifiziert wurden, fanden sich sechs Isolate, die dafür bekannt sind, dass sie Teil der natürlichen menschlichen Haut-Mikrobiota sind, nämlich Staphylococcus hominis, Micrococcus luteus, Kocuria rosea, Staphylococcus cohnii urealyticum und Staphylococcus arlettae. Ihre Übertragung auf die Buchseiten spiegelt höchstwahrscheinlich den direkten menschlichen Kontakt wider, der über die Jahrhunderte stattgefunden hat. Mit wenigen Ausnahmen waren die anderen Bakterien, die aus dem Buch isoliert wurden, Bakterienarten, die üblicherweise im Boden gefunden werden. Diese dürften eine Kontamination des Buches durch die natürliche Umgebung widerspiegeln. Die bakterielle Gattung Bacillus, zu der viele der Isolate gehören, ist für ihre Arsenale an abbauenden Enzymen bekannt. Sie können bei Aktivität den Zustand der Buchseiten verschlechtern. In diesem Sinne ist es leicht vorstellbar, dass ein Buch eine periodische und kryptobiotische bakterielle Ökologie besitzt. Eine, die bei Trockenheit ruht, und periodisch wieder erwacht, wenn das Buch feucht wird.

Das Metamorphosen-Kapitel – eine biologisch-hermeneutische Grafik

Wenn Mikrobiologen «beobachten», geht es in der Regel um das, was sich direkt vor ihnen befindet. Sie gewinnen ihre Anschauung durch ein Mikroskop oder in Form digitaler Daten. Der Gesamtzusammenhang verblasst. Woher kam die Probe? Wie weit ist sie gereist, um ins Labor zu kommen, und welchen Weg hat sie genommen? Wird die «Geschichte» der Probe durch das, was wir beobachten, beeinflusst?

Anstatt nur die Bakterien zu identifizieren, die aus dem Buch gezüchtet wurden, war es der Künstlerin Sarah Craske wichtig, die Kolonien mit den Originalseiten zu «kartographieren». Dazu entwickelte sie eine Technik, nach der die Seiten auf eine einzigartige Weise «gelesen» werden können. Neue Informationen traten hervor, darunter auch, wie Menschen mit dem Text interagierten. So zeigte sich, dass die Leser das Latein offensichtlich mehr berührt hatten als die englische Übersetzung. Vielleicht lag das daran, dass sie das Latein schwerer zu verstehen fanden? Ausserdem konnte man nun sehen, wie die Bakterien durch das Buch reisten, bzw. ob und wie Bakterien von Seite zu Seite übertragen wurden.

Die konsequent reduktinistische Sichtweise der Wissenschaft muss infrage gestellt werden. Mikroskopische Ansichten werden oft kreisförmiges dargestellt, als ein «Durch das Mikroskop»-Bild . Was aber bedeutet das für das gesamte Exemplar? Was bedeutet das für den breiteren Kontext?

Craske hat Abzüge des Originaltextes in vierfacher Vergrösserung erstellt, wodurch dem Betrachter ein Gefühl der physischen Vergrösserung vermittelt und zudem die Frage der Grössenverhältnisse thematisiert wird. Die sichtbare Form der Bakterienkolonien, nach wochenlangem Wachstum im Labor, wurden hochaufgelöst eingescannt und im Siebdruck schichtweise den Buchseiten überlagert, ohne dabei den ursprünglichen Text zu überdecken.

Craske knüpft mit ihren Arbeiten an wissenschaftliche Zeichnungen der Vergangenheit an, die ein Gefühl von Wunder ausstrahlten, wie etwa die Zeichnungen von Robert Hooke. Der Gebrauch einer scheinbar alten Ästhetik verleiht den Werken Bedeutung, eine Kombination aus Schönheit und Wahrheit unter Verwendung von semiotischen Tropen.

Das Buch III der Metamorphosen ist vollständig mikrobiell übersetzt und alle aus den 29 Seiten isolierten Kolonien sind als Landschaft kartographiert. Es wurde im Jahr 2017 in der Chethams Library (UK) als Teil einer grösseren Biologische Hermeneutik– Ausstellung vorgestellt.