Blicke auf die Volkskalender der Innerschweiz
von Gerhard Becker
sph-Kontakte Nr. 104 | Juli 2017
Die Kalenderwelt der Innerschweiz bildet den Gegenstand dieser kurzen Abhandlung, es geht um die sogenannten Brattige, namentlich um den Nidwaldner Kalender, der für das katholische und geografische Zentrum der Schweiz ein beredtes Zeugnis religiöser, politischer und gesellschaftlicher Einstellungen ablegt.
Der erste «Kalendermann» Nidwaldens, Pfarrer Remigius Niederberger aus Stans, formulierte im Jahre 1844, damals 26-jährig, als Pfarrhelfer in Buochs, in seiner im Druck erschienenen Predigt über den Frieden oder Unfrieden unsers schweizerischen Vaterlandes gleichsam vorwegnehmend sein Programm für den späteren Nidwaldner Kalender: «Eine Partei besteht also in der Schweiz …, welche dahin arbeitet, die katholischen Geistlichen um Ehre und Ansehen zu bringen, damit das Gift des Unglaubens desto leichter verbreitet werden könne; eine Partei besteht also in der Schweiz, welche darauf losgeht, uns zu trennen vom heil. Stuhle, das ist, vom römischen Papste, welches so viel heisst, als uns die katholische Religion zu rauben; denn so bald wir von Rom getrennt, sind wir keine Katholiken mehr. Eine Partei besteht in der Schweiz, welche alle Kräfte anwendet, die Katholiken zu unterdrücken. Und wie heisst diese Partei? Heisse sie wie sie wolle; früher nannte man sie Jakobiner, später Freimaurer und jetzt Radikale; doch, wie gesagt, am Namen ist nichts gelegen …»
Ultramontanes Gedankengut, Konzentration aufs Katholische, die Geistlichkeit als moralische Führung in allen Lebensfragen und -bereichen, Gehorsam und Gebetsdisziplin als Mittel gegen die erkannten und erklärten Feindbilder der Aufklärung, das alles ist sehr früh schon angelegt, und nach Freischaren und Sonderbund, nach der Bundesstaatsgründung mündete Niederbergers Energie in die federführende Mitwirkung und aszetisch-moralisierende Ausrichtung des 1860 von Kaspar von Matt herausgegebenen Nidwaldner Kalenders als Sprachrohr katholischen Widerstands gegen Liberalismus, Radikalismus, Modernismus und Kulturkampf, gegen Aberglaube und schädliche Lektüre. Bei Niederberger wird die Aufklärung Finsternis genannt: «Ich hoffe», schickt er in derselben Predigt voraus, «wir seien in der sogenannten Aufklärung, die ich lieber Finsterniss nennen möchte, noch nicht so weit vorgerückt, dass es zur Nothwendigkeit geworden wäre, vor einem ganz katholischen Volke zu beweisen, dass die Kirche eben so gut, wie jeder andere Staat, ihre Rechte habe.»
Um nun die Entstehung und den Umriss der Brattige genauer zu skizzieren, zunächst ein aufzählender Blick auf die Kalender der Innerschweiz. Rund um Nidwalden existierten 1860 bereits folgende Kalender: In Luzern bei Räber erschien seit 1834 Der Grosse christliche Hauskalender (ab 1839 Der neue christliche Hauskalender), der Einsiedler Kalender mitsamt seinen fremdsprachigen Ausgaben war 1841 aufgekommen, den Zuger Kalender gab es seit 1856. Der gewichtige Solothurner Hauskalender bestand seit 1854 und erfuhr schon mit dem dritten Jahrgang eine Titeländerung in St. Ursenkalender. Weitere folgten, so der Urner Kalender, dessen erster Jahrgang von 1878 datiert, oder der Katholische Volkskalender für die Alte und Neue Welt (1868–1870) und Benziger’s Marienkalender (seit 1893), beide aus Einsiedeln. Und – das sei en parenthèse hinzugefügt – 1855/56 existierte ein Neuer Unterwaldner Haus-Kalender, von Melch Wagner in Stans verlegt und vertrieben. Doch verbarg sich dahinter in erster Linie eine clevere Verkaufsstrategie, sowohl für Wagner wie auch für die Druckerei Räber in Luzern, denn in Tat und Wahrheit war dieser ‹Neue Haus-Kalender› identisch mit dem Neuen Thüring’schen Haus-Kalender aus Luzern. Das «Thüring’sche» wurde durch «Unterwaldner » ersetzt, und fertig war der Kalender. Dass lediglich zwei Jahrgänge des Unterwaldner erschienen, lässt jedoch den Schluss zu, dass die Rechnung nicht aufging. In den Schweizerischen Pius-Annalen, dem Organ des Piusvereins, wurde später, 1880/81, die Idee eines gesamtschweizerischen katholischen Central-Kalenders diskutiert, wegen der befürchteten Konkurrenz zu den zahlreich existierenden kantonalen Kalendern aber wieder verworfen.
Das Zielpublikum der Kalender war die katholische Bevölkerung, es ging darum, diese zu unterweisen und zu ermahnen: durch exemplarische Erzählungen, durch Heiligenlegenden (ganz in der Tradition ihrer voraufklärerischen Funktion). Indem gegen Liberale, Freisinnige, Radikale, Altkatholiken, Freimaurer, Sozialisten sowie Modernisten schwerstes verbales Geschütz aufgefahren wurde, sollte die Klientel der Kalender für die grundlegenden Interessen des Katholizismus aufgerüttelt, ja indoktriniert werden. Mehr oder weniger wurde thematisch auch auf die politische Situation des In- und Auslandes Bezug genommen, was jedoch im Nidwaldner Kalender mit Ausnahme des Ultramontanismus und der die katholischen Erzthemen berührenden Aspekte kaum eine Rolle spielte – bewusst. Die eidgenössischen Zentralthemen, darunter (durchaus exemplarisch) die Revision der Bundesverfassung, waren hingegen Gegenstand heftigster Dar- und Unterstellungen.
Im Protokoll der Verhandlungen der Kommission des Schweizerischen Nationalrats von 1871 heisst es: «Der Bundesrath glaubt, es gebe ein besseres Mittel zur Beseitigung der drohenden Gefahren, zugleich ein solches, das Allen gerecht ist und Niemandem weh tut, nämlich die Proklamierung der religiösen Freiheit. Dieser Gedanke wird oft übersezt in den verwandten der Trennung der Kirche vom Staate. Indess wird man doch gut thun, sich durch leztere Formel nicht zu irrigen Konsequenzen hinführen zu lassen. Der Staat, oder allgemeiner gesagt, das bürgerliche Recht soll allerdings von der Kirche oder dem geistlichen Rechte unabhängig sein.» – Eine diplomatisch formulierte Vorgabe, der Kommissar Niederberger in zahlreichen Artikeln und in einer 1872 erschienenen Schrift vehementen Widerstand entgegenbrachte. Seine gedruckte Darlegung wider diese Revision erreichte zehn Auflagen in einer Gesamthöhe von 40 000 Exemplaren!
Immer wieder kam es zu Titeländerungen der vorgenannten Kalender, die vor allem einen Zweck hatten: deren Ausrichtung und Tendenz zu signalisieren. Am Beispiel des seit 1770 bestehenden Zuger Kalenders wird dies augenfällig. Als dessen Begründer gilt Johann Michael Blunschi (1728–1781). Der erste Neue Haus-Kalender für Zug wurde im Herbst 1770 neben der heutigen Stadtbibliothek an der Zeughausgasse gedruckt. Blunschi amtete als Drucker und Herausgeber. «Neu» wurde der Kalender zunächst genannt, um ihn im Streit zu positionieren, der mit der Einführung des Gregorianischen Kalenders entstanden war. 1788 trägt ein Exemplar des Zuger Kalenders den verheissenden Titel Der zu Pferd und Fuss geschwinder Both, des hinckenden Boths Bruder. (Der Hinckende Bote war in Vevey (Vivis), Appenzell, Bern, Basel, Strassburg und anderen Orten ein sehr beliebter Titel; 1865 gaben die Gebrüder Benziger aus Einsiedeln für die Neue Welt gar den Cincinatier hinkenden Boten heraus.) Während der Helvetik heisst der Zuger Kalender Neuer helvetischer Calender auf das Jahr nach der Geburt unseres Herrn Jesu Christi 1800 nebst beygesetzter französischer Zeitrechnung. Ab 1804, mit der beginnenden Mediation, wird er dann wieder neutral zum Neuer Haus-Calender, und ab 1856 lautet der Titel Zuger Kalender. Wir sehen an diesem Beispiel, wie Titeländerungen den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontext widerspiegeln. Der Nidwaldner Kalender hingegen hat seinen Namen immer treu und redlich beibehalten – bis zum heutigen Tage.
Blicken wir nun kurz auf die ‹Macher, die Kalendermänner des Nidwaldner Kalenders – sie waren in der Tat allesamt Männer, keine Frauen (das hat sich erst in der jüngsten Zeit geändert). Pfarrer. Remigius Niederberger haben wir eingangs bereits erwähnt. Er war der führende Redaktor des Nidwaldner Kalenders in den ersten zwei Jahrzehnten. Mit vollem Namen hiess er Caspar Josef Remigius Maria Niclaus Niederberger, geboren 1818 in Dallenwil, gestorben 1885. Er bestimmte die Ausrichtung des Nidwaldner Kalenders bis zu seinem Lebensende praktisch im Alleingang, auch wenn ihm der Kaplan F. J. Frank und der Frühmesser Theodor Deschwanden zur Seite standen. Bald schon konnte zudem der bekannte Nidwaldner Kirchenmaler Melchior Paul von Deschwanden als illustrierender Gestalter ins Boot geholt werden. Sich selber und den geistlichen Stand hat Niederberger 1869 in einem dichterischen Erguss charakterisiert:
«Wo ist nä chlini Gmeind im Land,
Wo sövel Geistlich hed?
Es gäb, bigopp! ä dickä Band,
Wemm mä sie b’schrybä wett.
Zum Byspiel ist nu Einä da,
Wo au nu anis dänkt;
Er hed nä rothä Tschoppen a,
Wo ihm der Papst geschänkt.»
Niederberger war päpstlicher Kämmerer. Mit 22 Jahren, 1840, trat Niederberger ins Priesterseminar Chur ein, und bereits ein Jahr später erfolgte seine Primiz in der Stanser Pfarrkirche. Er war Mitbegründer des Schweizerischen Pius-Vereins, initiierte die Ortsvereine Stans und Buochs (der Verein wurde 1857 in Beckenried gegründet, zu Ehren und im geistlichen Sinne von Papst Pius IX.). Der erste Präsident war kein Geringerer als Graf Theodor Scherer-Boccard aus Solothurn. Die Idee für diesen gesamtschweizerischen Katholikenverein stammte von einem «Weltüberblicker», dem damals 23-jährigen Joseph Ignaz von Ah von Kerns (1834–1896), der auch die Wochenberichte im 1867 von Kaspar von Matt gegründeten katholisch-konservativen Nidwaldner Volksblatt schrieb und später mit seinen bodenständigen Predigten («Der Mensch ist wie ein Käse») weitherum beliebt und geachtet war.
Von 1886 bis 1890 wurde der Nidwaldner Kalender von Landammann Dr. Jakob Wyrsch aus Buochs redigiert, und ab 1891 übernahm der Engelberger Benediktiner-Pater Emanuel Wagner (1853–1907) diese Aufgabe, mit dem Geschichtsforscher Kaplan Anton Odermatt an seiner Seite, der wohl bereits in den Krankheitsjahren Niederbergers 1880–1885 den Kalender mehrheitlich redigiert hatte.
Schauen wir nun auf den Aufbau des Nidwaldner Kalenders, zunächst auf das Kleid, in dem er daherkam, um dann später auf die Inhalte einzugehen. Zentraler Bestandteil war das Kalendarium mit den Markttagen, den kirchlichen und Heiligenfesten, den astronomischen und astrologischen Erscheinungen sowie einer Wettervorhersage – das Mundartwort ‹Brattig› leitet sich her von den spätmittelalterlichen practicae mit ihren astrologisch-astronomischen Zukunftsprognosen, die als solche in die Kalender- Practica eingingen und im Volkskalender hauptsächlich den Bauern als Handlungsanweisung dienten. Auf das Kalendarium folgten Beiträge über Wallund Pilgerfahrten, das Missionswesen, Heiligenlegenden, Biografien bedeutender Unterwaldner oder Schweizer, erbaulich-moralisch-belehrende Erzählungen, kurze Geschichten (‹Kalendergeschichten›) und Anekdoten. Die letzte Umschlagsseite zierte das grosse Einmaleins, eine nützliche Seite, die an die Stelle des früher beliebten Aderlassmännchens trat.
In den ersten zweieinhalb Jahrzehnten des Nidwaldner Kalenders erschienen zudem viele historische Beiträge, weil, so Brigitt Flüeler in ihrer 1986 erschienenen Lizentiatsarbeit über Pfarrer Niederberger, die Katholisch-Konservativen in der Historie «die Legitimation für ‹ihre› Schweiz suchen. Die Erinnerung an die eigene Geschichte sollte ein katholischkonservatives Nationalbewusstsein hervorrufen.»
Das Titelblatt der ersten zwölf Jahrgänge ist programmatisch. Es stammt von Josef Balmer, einem Schüler Melchior Paul von Deschwandens ((Abb. ?!)). Über einer Ansicht des Fleckens Stans ringen Engel und Teufel um das neue Jahr. Für die, denen dies nicht deutlich genug war, lieferte Niederberger im Text eine Erklärung für das Bild: «Fort und fort streiten sich das Gute und das Böse.» Und damit dass sie dies über Stans und seiner «altehrwürdigen» Kirche tun, weise der Kalender darauf hin, dass Stans «der Geburtsort des grossen Winkelrieds und des kleinen Nidwaldner Kalenders sei». Ein «vierschrötiger Unterwaldner-Senn» und dessen Frau flankieren diese Kampfszene. Laut Niederberger ist «die Sennerei … die eigentliche Lebensessenz des Landes». Am Fuss der Seite findet sich schliesslich das von Reben umrankte Nidwaldner Wappen, bewacht und beschützt von zwei Drachen, die Gelegenheit geben sollten, «… den Leuten einmal die Geschichte von Struthan Winkelried zu erzählen».
Heidi Borner fasst in ihrem Werk Zwischen Sonderbund und Kulturkampf (Luzern, 1981) die Befindlichkeit der katholischen Seite wie folgt zusammen: «Die Wende von 1847/48 mit dem Sonderbundskrieg und der Bundesrevision bedeutete für die katholische Schweiz eine Erschütterung, die in ihren Auswirkungen auf Selbstbewusstsein und Selbstverständnis kaum überschätzt werden kann. Im stolzen Bewusstsein einer ruhmvollen kriegerischen Vergangenheit, bereit für den katholischen Glauben und die kantonale Unabhängigkeit zu kämpfen, hatte die Innerschweiz zum Krieg gestimmt … Die Niederlage … musste gerade in ihrer unblutigen und unheroischen Form als tiefe Demütigung wirken …» Und Rudolf Lill umschreibt die Situation im Handbuch der Kirchengeschichte (1971): «Die Schweizer Katholiken wurden in ein Ghetto abgedrängt … Die Bindung nach Rom wurde intensiviert, im Inneren grösstmögliche Geschlossenheit erstrebt, in zahlreichen Vereinen wurden alle Lebensbereiche konfessionalisiert … Die katholischen Prinzipien und Interessen wurden mit denen der konservativ-ultramontanen Richtung gleichgestellt.»
Aus dem beschädigten Selbstbewusstsein ging so ein Organisationskatholizismus (Altermatt) hervor; Einrichtungen für zahlreiche gesellschaftliche Belange wurden gegründet: Katholische Altersheime, Gesellenvereine, Turnvereine, Studentenvereine, Arbeitervereine, Mädchenschutzvereine, Pressevereine, Büchervereine bis hin zu katholischen Verlagshäusern und Volks- oder religiösen Dorfbibliotheken, in deren Sinne auch der Nidwaldner Buchhändler, Drucker und Verleger Kaspar von Matt handelte. Und es war die 1859 eingeführte neue Fast- und Feiertagsverordnung (20 Feiertage wurden damals in Werktage umgewandelt), die dem Ortsverein Stans des Piusvereins einen «christlichen Hauskalender, speziell für Nidwalden berechnet» ins Leben rufen liess. Im ersten Jahrgang wurde denn auch sofort die «Erinnerung an die Heiligen der dispensirten Feiertage» dokumentiert und deren unauslöschlicher Stellenwert betont.
Volkskalender gelten als eines der erfolgreichsten und einflussreichsten Massenmedien. Das sogenannt ‹Triviale› war auch damals viel verbreiteter als die in den Stand von Meisterwerken oder Klassikern erhobene Literatur, und in diesen Kontext gehören die massenhaft gelesenen Volkskalender, deren Wirksamkeit insofern nicht unterschätzt werden darf. Niederberger galten die weitaus meisten der zu seiner Zeit bestehenden Kalender als ‹religionsfeindlich› und ‹sittenlos›. Um das Gift und die Finsternis des Liberalismus und Radikalismus zu bekämpfen, dem einfachen Landvolk ein tugendhaftes Bollwerk gegen die kirchen-, religions- und papstkritischen Kräfte zu liefern und dem Ultramontanismus eine Stimme zu geben, nutzte und begrüsste er jedoch das Medium des Kalenders, denn es schien ihm das geeignete Instrument, um kirchliches und volkstümliches Brauchtum gegenüber der rationalistischen und aufklärerischen Grundstimmung der Zeit zu betonen.
Nachdem die ersten drei Jahrgänge bei Räber in Luzern erschienen waren, wurde dem Kalender von 1863 an auf der Schnellpresse des Buchhändlers und Verlegers Kaspar von Matt gedrucktes Leben eingehaucht. Alsbald stiegen die Auflagen, es wurden 5 000, 10 000, ja in Spitzenzeiten bis zu 30 000 Exemplare gedruckt. Heute erreicht der Kalender mit der 158. Ausgabe 2017 eine Auflagenhöhe von 6 500.
Im Jahre 1835 betrug die Bevölkerungszahl von Nidwalden rund 10 480 Seelen, wie uns Aloys Businger im Unterwaldner Band der Reihe Gemälde der Schweiz berichtet. Man kann davon ausgehen, dass im Geburtsjahr des Kalenders und in den Jahren nach 1860 das Bevölkerungswachstum in Nidwalden nicht allzu hoch war. Insofern ist die Auflagenzahl höchst beachtlich, denn es wurden lange Zeit mehr Kalender gedruckt, als es Einwohner gab. Und diese Kalender wurden auch verkauft, was auf eine Verbreitung über die engen Kantonsgrenzen hinaus deutet und mithin auf eine schweizweit grosse Leserschaft.
Doch lassen wir den Kalendermann selber zu Wort kommen. Im Gründungsjahrgang 1860 gibt er die «Lebensregeln und Marschroute für den neuen Nidwaldner-Kalender» durch. Im ersten Leitsatz heisst es: «Es steht keinem Kalender wohl an, beim Unglauben und der Unsittlichkeit Handlangerdienst zu versehen, am allerwenigsten einem Nidwaldner- Kalender. Das Volk von Nidwalden ist, Gottlob! Katholisch und will es … bleiben und zwar nicht mehr und nicht weniger, als römisch-katholisch; d’rum soll auch sein Kalender ein katholischer sein.» Und weiter: «Die Politik überlasse den Politikern und den grossen Herren und Zeitungsschreibern … Eben so wenig mische dich in die öffentlichen Geschäfte des eigenen Landes ein …» (Diesen Grundsatz befolgte Pfarrer Niederberger allerdings spätestens ab 1870 nicht mehr, als das Thema des Kulturkampfs den Kalender über die engen Unterwaldner Grenzen hinaustrug.) Am Ende gibt es folgende Regel mit auf den Weg: «Noch eins, lieber Kalender! Wenn dich Jemand fragt, wer wohl dein Vater sei, so gib zur Antwort: du dürfest es nicht sagen … Wollen es aber die Leute durchaus wissen, so sag’ es ihnen, man habe mehrere Geistliche im Verdacht, aber man solle es Niemandem sagen, es könnte dir Schaden bringen.»
Wenn man unumstössliche katholische Wahrheiten verkündete, bedurfte es offenbar keines personalisierten Autors; so wurde die persönliche Angriffsfläche verringert, wenngleich davon auszugehen ist, dass die Autorenschaft nicht unbekannt war. Auch wurde das Zielpublikum direkt angesprochen: «Besonders willkomm wirst du dem Bauernvolke sein. Dem Bauersmann ist ein guter Kalender seine Universität.» Und dem Landvolk wurde in eben diesem ersten Jahrgang unmissverständlich die Zeitrechnung der Schöpfung bekanntgegeben: «Das Jahr 1860 nach Christi Geburt ist das: 5844 Jahr nach Erschaffung der Welt.» – Wer wünschte sich nicht solche Gewissheit.
Mit dem ‹Unpolitisch-Sein› hatte es, wie gesagt, spätestens ab 1870 ein Ende. Kurz zuvor, 1867, hatte Kaspar von Matt eine katholisch-konservative Wochenzeitung, das Nidwaldner Volks-Blatt, gegründet, um der liberalen Obwaldner Zeitung etwas entgegenzusetzen. Doch diese bestand weiterhin – und war den Kalendermachern um Pfarrer Niederberger ein Dorn im Auge und ein radikaler Stachel im Fleische. So erschien dann 1870 bei Räber in Luzern die anonym «von mehrern Geistlichen Obwaldens» verfasste Schrift Warnung vor der Obwaldner-Zeitung und überhaupt vor unkirchlichen Zeitungen für das katholische Volk – ein Lieblingsthema Niederbergers. Er soll mit von der Partie gewesen sein, als im Kampf gegen die radikale und liberale Presse das Mittel der Druckschriften instrumentalisiert wurde, und ebenso der Nidwaldner Kalender. In der warnenden Kleinschrift heisst es: «Die radikale, die freimaurerische Presse … ist es, aus der die ‹Obw. Ztg.› grösstentheils ihre lügenhaften und verleumderischen Berichte über die Jesuiten und über das Concil, [das Erste Vaticanum], bezieht. … Die ‹Obwaldner Zeitung› bleibt aber nicht dabei stehen, über die Jesuiten, über … Bischöfe zugleich Unwahrheiten und Verleumdungen zu bringen. Sie wagt es sogar unsern hl. Vater, den glorreich regierenden Papst Pius IX. anzugreifen, zu bekriteln und herabzuwürdigen …» In diesem Stile geht es auf insgesamt 15 Seiten weiter.
Ich habe ein Exemplar dieser Kleinschrift gefunden, auf dessen Titelblatt sich rückseitig ein bemerkenswerter handschriftlicher Eintrag findet: «Gemäss Mittheilung der … Reg. Rath Küchler stam[m]t diese Schrift von seinem Bruder Pfarrhelfer Küchler in Kerns.» So dies denn stimmt, ist wenigstens einer der «mehrern Geistlichen Obwaldens» identifiziert. Anton Küchler (1839–1905) war seit 1864 Pfarrhelfer in Kerns, er zeichnete als Verfasser der substanziellen Chroniken von Alpnach, Kerns, Sachseln und Sarnen (HBLS).
Schluss war damals auch mit dem rückblickend fast idyllisch anmutenden Titelblatt des Nidwaldner Kalenders. Ab 1872 gab es keine Sennen, keinen ringenden Engel, keine Ansicht des Dorfes Stans, kein Wappen mehr; der den aufgenommenen Kirchenkampf symbolisierende Struthan Winkelried im Kampf mit dem Drachen beherrschte fortan die Szene. Und Niederberger benutzte den Nidwaldner Kalender immer mehr als ein Sprachrohr, als Kampfblatt, um seine Position im Kulturkampf, um Ultramontanismus und Papsttreue zu portieren. Reizworten wie Liberalismus, Radikalismus, Freimaurerei wurden positiv konnotierte Werte wie Pflicht und Gehorsam, Religion und Vaterland, aber auch das unveränderliche kirchliche Brauchtum entgegengesetzt. Artikel wie «Das Konzili und der Teufel und and’re Leut» (1871), «Die neueste Sorte der Altkatholiken und Anderes» (1872, zum ersten Mal von Niederberger unterzeichnet), «Photographien aus dem Kampfe gegen die katholische Kirche» (1874), «Der Bär als Kirchenvogt oder wie man’s den Katholiken im Jura macht» (1875) trugen den Tenor und Wertekanon Niederbergers über die Kantonsgrenzen hinaus.
Im Jahrgang 1876 folgten «Die zehn Gebote des neugebackenen religionslosen Staates» (zur Erinnerung: 1874 war die erste Totalrevision der Verfassung in Kraft getreten), die abschreckend und plakativ folgendermassen lauteten:
Du sollst an keinen Gott glauben.
Du sollst den Namen Gottes eitel nennen.
Du sollst den Sonntag entheiligen.
Du sollst den Staat über Alles in Ehren halten und
ihm allein folgen.
Du sollst keinen Spitzbuben tödten!
Du sollst nicht die Unkeuschheit vertreiben.
Du sollst nicht wenig stehlen.
Du sollst der Kirche ein falsches Zeugniss geben!
Du sollst Keinem verwehren seines Nächsten Hausfrau.
Du sollst nicht vermehren deines Nächsten Gut.
Erst in den letzten Lebensjahren seines ersten Chefredaktors wurde der Ton des Nidwaldner Kalenders wieder etwas zahmer. Doch waren die Heiligenlegenden und erbaulich-belehrenden Geschichten nahezu gänzlich verschwunden, und erst nach Niederbergers Tod 1885 kamen unter der Federführung von Landammann Dr. Jakob Wyrsch in den Inhalten gemässigtere Züge zum Vorschein. Ab 1891 zeichnete dann P. Emanuel Wagner von Engelberg für den Inhalt verantwortlich. Biografien verdienter Persönlichkeiten, Heiligenleben, Erzählungen aus der Heimat und aus der Fremde, patriotische Gedichte, praktische Hinweise und humorvolle Anekdoten bestimmten nun den Nidwaldner Kalender und näherten ihn so wieder dem Grundgedanken, mit dem er sich einst in die Welt aufgemacht hatte.
Entsprechend bahnte sich ein erneuter Wechsel des Titelblattes an. In den Jahrgängen von 1892 bis 1895 trat dem Drachenbekämpfer Struthan, der weiterhin die vordere Umschlagseite einnahm, ein zweites Titelblatt zur Seite, das unter der thronenden Madonna mit Jesuskind den seligen Bruder Klaus (und ab 1947 dann den hl. Nikolaus von Flüe) und den Ritter Arnold von Winkelried zeigte, rechts und links vom Nidwaldner Wappen stehend. Von 1896 bis 2001, also über 100 Jahrgänge, bestimmten diese beiden verehrten Gestalten unter dem Schutz der Gottesmutter das Titelbild dann allein. Von 1860 bis 1966 begann der Textteil des Kalenders zudem mit Bruder Klausens «Der Name Jesus sei euer Gruss!» («der nam Jhesu sig uwer gruoss»).
Werfen wir abschliessend noch einen vergleichenden Blick auf die Inhalte einzelner Jahrgänge der Innerschweizer Kalenderwelt. Hierfür seien der Zuger Kalender, Der Neue Christliche Hauskalender (Luzern) sowie der weitverbreitete Einsiedler Kalender hinzugezogen.
Der Zuger Kalender erscheint seit 1856, Gründer und Verleger war Johann Baptist Elsener, der in Pfarrhelfer Paul Anton Wickart (1816–1893) einen tüchtigen Redaktor fand. Der wohl profilierteste Mitarbeiter am Zuger Kalender aber war ein Luzerner, nämlich der «Alte Balbeler», Pfarrer Xaver Herzog von Ballwil (1810–1883). Im Kalender auf das Jahr 1875 – das ich zugegeben eher zufällig zum Vergleich herausgegriffen habe, das aber dennoch beredt und signifikant ist für die Kalenderinhalte – bringt der Nidwaldner Kalender nach dem Kalendarium nur einen einzigen Beitrag, und zwar in dialogischer Erzählform: «Der Bär als Kirchenvogt oder wie man’s den Katholiken im Jura macht», Pfarrer Niederbergers ‹Lieblingsthema›, der Umgang mit der Katholischen Kirche und Geistlichkeit, in diesem Jahrgang auch von ihm unterzeichnet. Der Zuger Kalender von 1875 ist da vielseitiger geraten. Hier erfahren wir etwas über «Eine Schreckensnacht in Zug» (1763), über «Greth Schell, Seniorin der Stadtgemeinde Zug», wir können zudem eine Kalendergeschichte von Xaver Herzog lesen, ein Porträt des deutschen Dichters Ludwig Uhland, und uns über den Fritschi-Umzug in Luzern und das St. Galler Brauchtum des «Brautspinnet» informieren. Praktisches über den Obstbau sowie einige humorvolle Anekdoten runden den Kalender ab – alles mit hübschen Holzstichen illustriert. Kein religiöses resp. politisches Wort, keine Polemik.
Vergleichen wir für den Jahrgang 1879 den Nidwaldner mit dem Luzerner Kalender, dem Neuen Christlichen Hauskalender, dessen Titelblatt «unbefleckte Jungfrau, der fromme Niklaus Wolf von Rippertschwand und der selige Br. Klaus» zieren. Der gesamte Jahrgang des Nidwaldner Kalenders umfasst die Fortsetzung von Pfarrer Niederbergers Bericht «Aus dem Tagebuch eines Römerpilgers», das er 1878 begonnen hatte (auch die folgenden Jahrgänge berichten ausschliesslich davon) – Ultramontanismus in Reinkultur. Der 1878 erfolgte Tod von Pius IX., dem Namensgeber des Piusvereins, wird dabei erstaunlicherweise mit keiner Silbe erwähnt, wohingegen dieses Thema im Luzerner Kalender breiten Raum einnimmt, ebenso das Konklave und die Wahl Leos XIII. zum neuen Papst. Vielmehr berichtet Niederberger am Schluss des ersten Teils seiner Romfahrt im Kalender auf das Jahr 1878 noch, «dass wir, was die Hauptsache ist, den hl. Vater, trotz seiner 86 Jahre, in bestem Wohlsein angetroffen haben.» Was die Themenvielfalt betrifft, so weiss der Neue Christliche Hauskalender überdies noch von der vorjährigen Pariser Weltausstellung zu berichten und gefällt mit Anekdoten und praktischen Anleitungen für den Haushalt, auch hier alles mit eindrücklichen Holzstich-Illustrationen belebt. Der Nidwaldner Kalender nimmt sich dagegen in den ersten 30 Jahren, was Illustrationen anbelangt, eher bescheiden aus. Er bietet meist einfache, naive Darstellungen. Einzig 1890 gelingt den Herausgebern ein visionäres Bild: Es zeigt den Ort Stansstad in der Zukunft.
Benzigers Einsiedler Kalender – hier herangezogen die Ausgabe für Amerika –, der im Jahre 1841 von den Gebrüdern Benziger begründet worden war, wurde schnell zu einem international einflussreichen Unternehmen, er war während des 19. Jahrhunderts der schweizerische Volkskalender mit der höchsten Auflagenzahl (bis zu 300 000 Exemplare). Der erste Kalendermann war kein Geringerer als der Einsiedler Benediktiner-Pater Gall Morel, der bis 1872 für die Redaktion verantwortlich war; ihm folgte der kunst- und architekturverständige Pater Albert Kuhn. Im Kalender auf das Jahr 1879 gewährt dieser – neben Kalendergeschichten – dem verstorbenen und dem neuen Papst einen umfangreichen Beitrag. Auch Berichte aus dem Leben der Zigeuner, über das antike Pompeij und über katholische Kirchen in Amerika erhalten ausführlichen Raum und werden von gut ausgeführten Xylografien begleitet. Dem Vergleich ist deutlich abzulesen, dass sich der Nidwaldner Kalender nicht als Medium sah, das darüber berichtet, was in der Welt vorgeht, sondern dass es ihm darum ging, sein ultramontanes religiöses Pflichtprogramm streng, ja nahezu orthodox zu verkünden. Weltliche Ereignisse wie die Eröffnung der Pilatusbahn, bewundernd beschrieben im –Zuger Kalender von 1890, der gleichzeitig noch «Die Weltlage in einem Jahresbericht» abhandelt, haben dabei keinen Platz, auch nicht das Schicksal der Bourbaki- Armee 1871, das den Lesern des Nidwaldner Kalenders schlichtweg nicht begegnet.
Es gibt also im Nidwaldner Kalender des 19. Jahrhunderts keine eigentliche ‹Gegenwart›, es gilt vielmehr und ausschliesslich das ‹vergangene mustergültige Beispiel›, das als politischer Gegenstrom zu allem neu Aufkommenden in Anschlag gebracht wird. Katholisch zu sein im besten Sinne des religiösen Volkskalenders, dieser Impetus durchdringt alle Instanzen und lässt die sich rasant verändernde Welt aussen vor, denn die ‹ewigen Werte› sind nicht verhandelbar und stehen auch nicht zur Diskussion. Das Disparate, das Nebeneinander ungleicher Dinge, Geschehnisse und Entwicklungen gibt es für den Nidwaldner Kalender nicht – oder zumindest damals noch nicht, denn heute zeigt er sich progressiv, aufgeschlossen und auf der Höhe der Zeit.
Doch ging es im Nidwaldner Kalender nicht nur ernst zu, sondern durchaus auch humorvoll, und zuweilen gar derb. Im Jahrgang 1886 etwa heisst’s an die Disziplin des ‹Gemeinen› adressiert – und hier natürlich an den verständnisvollen Landmann: «Korporal: Sagen Sie mir Blümel, was ist Disziplin? Gemeiner: Disziplin ist das eckelhafte Gefühl, welches der Soldat empfindet, wenn seine Vorgesetzten in der Nähe sind. Korporal: Und wen versteht man unter seinen Vorgesetzten? Gemeiner: Unter seinen Vorgesetzten versteht der Soldat alle diejenigen, welche er nicht durchhauen darf, wenn sie ihm Grobheiten machen!»
1866 berichtet wird: «Ein Prediger hatte die Eigenheit, dass er seine Predigten ganz streng nach der Uhr bestimmte; schlug die Stunde, so endete er seine Rede und sollte er auch mitten in einem Satze abbrechen. Einstens handelte er von Mardochäus und Aman ab: Was war der Lohn dieses Bösewichts? rief der Prediger mit allem Nachdruck, ‹an den Galgen ging es mit ihm!› Die Uhr schlug und der Prediger endete: ‹wozu der liebe Gott Euch Allen verhelfe!› Amen.»
Spät erst nutzte die Nidwaldner Brattig die Einnahme- und Informationsquelle des Inserates. Die ersten Anzeigen tauchen 1893 auf, und neben zahlreichen Buch- und Zeitschriftenempfehlungen (selbstredend alles katholische Literatur) fällt der Blick dabei auf die Adresse von Carl Sautier aus Luzern, der zeitlos und schlicht inseriert: «Carl Sautier in Luzern nimmt Gelder an», er bietet 3.75% aufs Kassenbüchlein und 4% auf Obligationen. Das waren noch Renditeaussichten!
Volkskalender waren erschwinglich (dank der Schnellpresse mit ihren hohen Auflagenzahlen), gingen durch zahlreiche Hände und dank oraler Vermittlung in noch mehr Ohren und Köpfe. Sie waren informative, praktische ‹Zeitweiser›, ein Massenmedium, vergleichbar den ex- und intensiv genutzten Informationsträgern unserer heutigen Welt, aber ihre Informationen waren gezielt ausgewählt – selektiv und teleologisch, um mit scholastischem Vokabular zu sprechen – und somit in keiner Weise mit dem unterschiedslosen Informationsfluss der Gegenwart zu vergleichen. Die beharrlich wiederkehrenden Hinweise, etwas nicht zu tun, etwas nicht zu lesen, da es unausweichlich Verderb- und Verdammnis nach sich ziehe, dürften genau das Gegenteil erzielt haben. Das Verbot wird zum Zwang, das Verbotene zu konsumieren. Und wenn wir uns den Nidwaldner Kalender (und die Welt) heute ansehen, erkennen wir deutlich, dass der bischöfliche Kommissar und päpstliche Ehrenkämmerer Remigius Niederberger und seine Adlaten ihr Ziel nicht erreicht haben.
(Alle Quellenangaben beim Verfasser)