«Bahnriss?! Papier|Kultur» – Eine sehenswerte Ausstellung im Deutschen Buch- und Schriftmuseum Leipzig
von Nana Badenberg
sph-Kontakte Nr. 102 | Juni 2016
Im Wortsinne reisserisch klingt der Titel der Ausstellung, und doch ist er – nicht nur typographisch – subtil. Denn hinweisen will die Leipziger Sonderschau zum Papier vor allem auf eins: auf den Riss, der sich in unserem elektronisch geprägten Zeitalter zwischen dem Beschreibstoff Papier und der Kultur aufgetan hat. Der senkrechte Strich verdeutlicht, dass sich unsere Kultur vom Papier trennt, dieses als Leitmedium abgelöst wird; dass der Riss ein endgültiger sein soll, das freilich stellt das doppelte Satzzeichen mit gespielter Empörung infrage. Und mit ihm die von Frieder Schmidt und Julia Rinck sorgfältig kuratierte Ausstellung, die in aller Opulenz, die der zentrale, für Sonderausstellungen vorgesehene Raum erlaubt, die Herstellung und Verwendung von Papier vorführt. Auf sieben Stationen wird der Besucher durch das Zeitalter des Papiers geführt: Es beginnt mit einem steinernen Stampftrog und endet mit der Beschwörung der papiernen Magie. Dazwischen liegt die selbst Vieles umfassende und äusserst facettenreiche Zeit des Maschinenpapiers.
Denn einen Bahnriss gibt es selbstredend erst, seitdem es Papiermaschinen gibt; und je schneller diese laufen, desto kostspieliger ist es, wenn die Maschine nur eine kleine Weile still steht, bis der Schaden wieder behoben ist. Die Handpapierherstellung macht daher nur einen kleinen Teil der Ausstellung aus; spannend sind hier nicht nur das Modell einer Papiermühle, Riessdeckblätter und Wasserzeichen, sondern auch die Verordnungen etwa zum Lumpensammeln. Im 19. Jahrhundert kommen dann Überlegungen zur Verwendung anderer Materialien auf und bald schon Analysen des Fasergewebes. Berechnungen des Haderngehalts, der Zusammensetzung des Papiers wie auch der Herstellungskosten werden mit der zunehmenden Industrialisierung der Papierherstellung immer wichtiger; sie erlauben einen detaillierten Einblick in die Produktion. Das Nämliche gilt für Normformate, Musterbücher und Preislisten, die hier ausgiebig studiert werden können. Die Produktionsweise der Papierfabrik Greiz in den 1930er-Jahren kann man gar anhand ihrer nicht nur selbst hergestellten, sondern auch genutzten Hollerith-Lochkarten nachvollziehen: Angelegt und fein säuberlich in ein Album geklebt wurden Rohstoff-, Produktions-, Auftrags-, Berichtigungs-, Abteilungsbewegungs- und Gefolgschaftskarten. Anfänge der Digitalisierung, die uns heute seltsam fremd anmuten.
Einen besonderen ästhetischen Reiz hat die gleichfalls stark in das Ausstellungskonzept einbezogene Papierwerbung insbesondere der 1960er-Jahre. Erstaunlich (aber vielleicht nur der geschickten Motivauswahl zu verdanken) ist, dass sich hier bereits eine Akzentverschiebung ankündigt: weg vom Beschreibstoff und damit Kulturträger Papier, hin zum Verpackungs- und Hygienematerial. «Ich helfe verkaufen!» ruft die Papiertüte lange vor dem Internethandel, und Eierschachteln gehören ebenso zur Produktion wie das immer wieder – auch literarisch – beschworene und benötigte Toilettenpapier. Die Papierfabrik Scheufelen wiederum war einst stolz auf ihr «Weltraumpapier», das auf Mission mit der Apollo 12 seine Nicht-Entflammbarkeit unter Beweis stellte.
«Fahrenheit 451» lässt grüssen – auch wenn diese Zahl heute nur mehr ein Fehlercode für gesperrte Internetseiten ist.
Doch ob brennbar oder nicht, etwas würde fehlen, wenn es kein Papier mehr gäbe – das bezeugen nicht zuletzt die Grafiken und Zeichnungen im letzten Teil der Ausstellung (u.a. von Fritz Bühler und Elisabeth Voigt) ebenso wie die literarischen Beschreibungen des Papiers – und sei es nur das «heimlich Grugeln», das uns Christian Morgenstern am Beispiel der nächtens in der Stube verteilten Packpapierkugeln lehrt.
Sonderausstellung im Deutschen Buch- und Schriftmuseum, Deutsche Nationalbibliothek Leipzig, bis 2. Oktober 2016, jeweils Dienstag bis Sonntag 10–18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr.