Auf Briquets Spuren in Sitten – Die Entstehung des europäischen Papiertyps in Italien in neuem Licht

[et_pb_section bb_built=»1″ _builder_version=»3.16.1″ custom_padding=»100px|0px|100px|0px|false|false» custom_padding_tablet=»37.5px|5px|37.5px|5px» custom_padding_phone=»20px|5px|20px|5px» custom_padding_last_edited=»on|phone»][et_pb_row _builder_version=»3.16.1″ background_size=»initial» background_position=»top_left» background_repeat=»repeat»][et_pb_column type=»1_2″][et_pb_code admin_label=»Zurück» _builder_version=»3.16.1″ text_orientation=»left»]<p><b><a href=»javascript:javascript:history.go(-1)»>Zurück zur Übersicht</a></b></p>[/et_pb_code][/et_pb_column][et_pb_column type=»1_2″][et_pb_text admin_label=»PDF» _builder_version=»3.16.1″ text_font=»|700|||||||» text_text_color=»#876949″ text_font_size_last_edited=»off|desktop» header_text_align=»right» text_orientation=»right» link_option_url_new_window=»on» disabled=»off» disabled_on=»on|on|» link_option_url=»https://www.papierhistoriker.ch/wp-content/uploads/2018/10/Auf_Briquets_Spuren_in_Sitten.pdf»]

Artikel als PDF herunterladen

[/et_pb_text][/et_pb_column][/et_pb_row][et_pb_row custom_padding=»0px|0px|25px|0px» _builder_version=»3.15″ background_size=»initial» background_position=»top_left» background_repeat=»repeat» custom_css_main_element=»max-width: 700px;»][et_pb_column type=»4_4″][et_pb_post_title admin_label=»Beitragstitel» author=»off» date=»off» categories=»off» comments=»off» featured_image=»off» _builder_version=»3.16.1″ title_font=»|700|||||||» title_text_color=»#000000″ title_font_size=»42px» title_line_height=»1.6em» custom_padding=»||0px|» title_font_size_tablet=»36px» title_font_size_phone=»30px» title_font_size_last_edited=»on|phone»]

 

[/et_pb_post_title][et_pb_text admin_label=»Autor» _builder_version=»3.16.1″ text_font_size=»16px» custom_margin=»||7.5px|» text_font_size_tablet=»14px» text_font_size_phone=»12px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

von Dr. Peter Tschudin

[/et_pb_text][et_pb_text admin_label=»Ausgabe» _builder_version=»3.16.1″ text_font_size=»16px» custom_margin=»||7.5px|» text_font_size_tablet=»14px» text_font_size_phone=»12px» text_font_size_last_edited=»on|phone» text_line_height=»1em»]

sph-Kontakte Nr. 80 | Dezember 2004

[/et_pb_text][/et_pb_column][/et_pb_row][et_pb_row custom_padding=»||25px|» _builder_version=»3.15″ background_size=»initial» background_position=»top_left» background_repeat=»repeat» custom_css_main_element=»max-width: 700px;»][et_pb_column type=»4_4″][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font=»|700|||||||» text_font_size=»18px» text_font_size_tablet=»17px» text_font_size_phone=»16px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Referat anlässlich der Jahrestagung der SPH in Genf, 25. 09. 2004

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font=»|700|||||||» text_font_size=»25px» custom_padding=»20px|||» text_font_size_tablet=»22px» text_font_size_phone=»20px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Die älteste auf Papier geschriebene Archivreihe der Schweiz

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font_size=»18px» text_font_size_tablet=»17px» text_font_size_phone=»16px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Schon Altmeister Charles-Moïse Briquet hat darauf hingewiesen, dass das angeblich älteste fest datierte Papiermanuskript der Schweiz sich im Archiv des Domkapitels in Sitten befindet. Es handelt sich um den zweiten Band, beginnend 1275, der Reihe der „Minutes“ der Notare des Domstifts, also um eine fortlaufende Serie von Kopien oder Entwürfen von Notariatsakten, deren Originale einzeln auf Pergament ausgefertigt und an die beteiligten Parteien ausgehändigt worden waren. Wie im Archivwesen des Mittelalters und der frühen Neuzeit allgemein üblich, verblieben diese auf Papier geschriebenen Entwürfe als Doppel beim Aussteller oder Absender. In diesem Sinne muss auch das bekannte Edikt des Hohenstaufenkaisers Friedrich II. von 1232 interpretiert werden. Es geht dabei nicht darum, dass die Notare kein Papier mehr verwenden sollten, sondern dass es nicht statthaft sein sollte, die als Original geltenden Einzel-Urkunden auf Papier anstelle von Pergament auszufertigen. Anlässlich der SPH-Jahrestagung 1993 in Sitten wurde diese Reihe den Teilnehmern kurz vorgestellt.

Der Referent wurde letztes Jahr von Frau Chantal Ammann-Doubliez, Sitten, angefragt, ob er bereit wäre, für die geplante Publikation ihrer Dissertation über die ersten Bände der Reihe diese ältesten Papiere zu untersuchen. Dieser Bitte kam er gerne nach, bot sich doch so die Gelegenheit, nach den an Resultaten überraschend reichen Serien-Untersuchungen von Theo Gerardy in Fribourg und Hans Kälin in Basel die älteste der bekannten Reihen unter die Lupe zu nehmen, die seit Briquet niemand mehr papierhistorisch gewürdigt hatte. Aus Zeitgründen beschränkte sich die neue, in den Räumen des Stiftsarchivs Sitten vorzunehmende Untersuchung auf die Erhebung von Kenndaten gemäss IPH-Norm und den Vergleich einzelner, bis 1327 reichender Bände. Als schonendste Methode der Untersuchung und Dokumentierung wurde die digitale Durchlichtfotografie unter Benützung einer hochauflösenden Kamera (Nikon Coolpix 885), einer flexiblen Leuchtfolie und einer vor das Objektiv gestellten Makro-Linse (Vergrösserung 1:10) gewählt, welche die Auswertung der Aufnahmen durch weiteres Vergrössern am Computerbildschirm erlaubte. Auf den in vielerlei Hinsicht sehr aufschlussreichen Inhalt der „Minutes“ konnte leider nicht eingegangen werden.

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font=»|700|||||||» text_font_size=»25px» custom_padding=»20px|||» text_font_size_tablet=»22px» text_font_size_phone=»20px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Der Befund

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font_size=»18px» text_font_size_tablet=»17px» text_font_size_phone=»16px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Der erste untersuchte, aus vier Heften im 19. Jahrhundert zusammengestellte Band mit der offiziellen Signatur „Archives du Chapitre de Sion, Minutier A2“ umfasst Entwürfe und Kopien des Notars Magister Martin von Sitten. Die ersten Eintragungen beginnen mit dem Jahr 1275, die letzten stammen von 1295. Er besteht aus 98 grösstenteils beschnittenen Folio-Seiten sowie vier Papier- und drei Pergamentfragmenten. Wie schon Briquet festgestellt hat, sind in diesem Band drei Papiersorten zu unterscheiden, die allesamt nicht den Charakter des mittelalterlichen europäischen Büttenpapiers aufweisen. Briquet betont auch, dass es sich trotz des eher fremdartigen Aussehens nicht um das fälschlicherweise so genannte „Baumwollpapier“ handle, und verweist auf die von ihm angeregte Faser-Untersuchung des Genfer Professors J.Brun, der Leinen- und Hanffasern festgestellt hatte.

Bei der ersten Papiersorte, welche die Seiten 1 bis 28 umfasst, handelt es sich um ein hochqualitatives, schweres, beidseitig gestrichenes und glatt poliertes naturfarbenes Papier [Tabelle 1] vom Format 475 x 315 mm (geringfügig beschnitten). Das Format entspricht keinem der bekannten klassischen arabischen Papierformate, aber in der Breite einer arabischen kanonischen Elle und in der Höhe 2/3 einer arabischen Elle. Der Stoff weist die für arabisches Papier typischen Faserbündel und Garnreste auf. Die wegen des dicken Strichs aus Weizenstärke nur schlecht sichtbaren Kettfelder schwanken in der Breite zwischen 45 und 56 mm, die Rippzahl (10) ist niedrig, und in der Durchsicht zeigen sich beim Gautschen verbogene Ripplinien. Dies weist auf ein Bambus- oder Binsensieb hin. Man ist versucht, von einem klassischen arabischen Papier zu sprechen, wenn nicht die im Vergleich zu in arabischen Ländern gefertigten Papieren gleicher Zeitstellung stärkere Blattdicke nachdenklich stimmte. Derartige Papiere sind aus spanischer Fabrikation bekannt, könnten aber auch aus den seit dem Anfang des 13. Jh. nachgewiesenen oberitalienischen Papiermühlen arabischen Typs stammen.

Die zweite Sorte, die Seiten 29 bis 50, unterscheidet sich in den Blattmassen (465 x 302 mm), den Kettfeldern (mehrheitlich 56 mm) und der Rippzahl (11). Der beidseitige Weizenstärke-Strich ist nicht so dick aufgetragen und weniger glatt, so dass ein weicherer, rauer Griff resultiert. Die Kettlinien selbst erscheinen in einigen Bogen unregelmässig verzerrt. Der Stoff kann unter der Lupe als Leinen, eventuell mit Hanf vermischt, bestimmt werden.

Die dritte Sorte (zwei Hefte, Seiten 51 bis 98) weicht in den Blattmassen wiederum ab (476 x 310 mm), ist jedoch der zweiten Sorte sehr ähnlich, eher qualitativ besser und etwas steifer. Die Rippzahl beträgt wiederum 10, und die Kettfelder schwanken zwischen 45 und 50 mm. Neben Fehlern im Strich ist bemerkenswert, dass die Kettlinien wiederum eher verschwommen erscheinen, also als Garn zu bestimmen sind, während die Rippen scharfe Konturen aufweisen, also als Draht anzusprechen sind.

Das Nachfolge-Folioheft (Signatur: Minutier A2bis) enthält ebenfalls Entwürfe des Notars Martin von Sitten, und zwar aus den Jahren 1296 bis 1298. Das Papier könnte also später gekauft worden sein als das der ersten Hefte. Es ist einheitlich, unbeschnitten, mit Bogenformat 435 x 312 mm, beidseitig mit Weizenstärke dünn bestrichen und poliert. Es fühlt sich eher weich an. Die Kettfelder sind unregelmässig breit (40 bis 50 mm). Es unterscheidet sich von den Papieren des ersten Bandes nicht nur durch den Griff und das Format, sondern vor allem durch die feineren, sehr regelmässigen Ripplinien (Rippzahl 14), und durch den etwas besser aufbereiteten Stoff. Das Format entspricht lombardischen Massen (Breite: 1 Mailänder Fuss; Höhe: 12 Finger) und kann als unmittelbarer Vorläufer des bekannten Bologna-Formats „Reçute“ von 1308 angesehen werden.

Als Stichprobe für die Fortsetzung der Serie wurden zwei weitere Bände aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts untersucht. Der Hochformat-Quartband mit Signatur Minutier A7bis enthält Notizen, Kopien und Entwürfe des Notars Jakob von Ernen aus den Jahren 1302 bis 1327. Er besteht aus einheitlichem Papier vom Format 390 x 270 mm (beschnitten), das ebenfalls beidseitig mit Weizenstärke dünn gestrichen und poliert ist. Es fühlt sich eher steif an. Die groben Rippen (Rippzahl 11) laufen sehr regelmässig, während die Kettfeldbreite auch innerhalb eines Kettfeldes beträchtlich schwankt (40 bis 50 mm). Während die Kettlinien unscharf verschwimmen und verzogen sind, sind die Ripplinien scharf abgegrenzt, was wiederum auf Drähte hinweist; auffällig ist, dass jede 10. Ripplinie gehoben oder verdickt erscheint. Im Gegensatz zu den vorherigen Papieren ist der Stoff dieses Papiers zwar noch immer schlecht, doch deutlich besser aufgeschlagen. Das Format entspricht den frühen Bänden des Archivs von Genua und ist auch aus spanischen Archiven bekannt.

Zur grossen Überraschung fand sich in diesem Band ein Bogen mit so genanntem Zickzack-Muster. Diese Muster sind vor allem bei Papieren arabischen Typs aus dem Maghreb und aus Spanien festgestellt worden. Sie entstehen durch Einkerben der noch feuchten Papieroberfläche mit einem dünnen Holzstab vor dem Trocknen. Die  von oben nach unten verlaufende Hin- und Her-Bewegung mit Betonung des horizontalen Strichs lässt das eigentlich waagrechte Strichmuster wegen der nur ganz leicht eingekerbten schrägen Verbindungslinie zum nächsten Strich als Zickzackmuster erscheinen. Die Bedeutung ist umstritten; am ehesten dürfte es sich um Abzählzeichen einer Anzahl frisch geschöpfter Bogen handeln. Auf dem vorliegenden, beschnittenen Bogen sind 19 kurze waagrechte Striche zu zählen; die Schräglinien fehlen.

Dieser Band hielt aber noch eine weitere Überraschung bereit. Der Notar hatte an mehreren Orten Zusätze auf Papierstreifen geschrieben und an der entsprechenden Stelle eingeklebt. Diese Streifen erwiesen sich als Fabriano-Papier mit dem bekannten Wasserzeichen MF!

Der letzte zur Prüfung ausgewählte Band der Reihe (Signatur: Minutier A10) enthielt Entwürfe, Kopien und Notizen des Notars Johannes Mummelin von Bex aus den Jahren 1312 bis 1326. Das Papier ist von europäischem Typ, von gut gemahlenem Hadernstoff, anscheinend tierisch geleimt und geglättet, im Folio-Format (beschnitten) 440 . 327 mm. Das Format entspricht in der Breite wiederum dem Mailänder Fuss, in der Höhe 3⁄4 eines Mailänder Fusses, und ist dem „Reçute“-Format von Bologna gleichzusetzen. Die Kettfeldbreite ist unregelmässig und schwankt zwischen 25 und 32 mm; die Rippzahl ist 12. Jede fünfte Ripplinie erscheint hervorgehoben. In der Bogenfolge ist ein Siebpaar festzustellen. Das erste Sieb trägt als Wasserzeichen die Letter „A“ in der linken Bogenhälfte und die Letter „b“ in der Bogenmitte (im Band also im Falz), während das zweite Sieb in der linken Bogenhälfte die Letter „i“ und daneben die Letter „O“ aufweist. Auch dieses Papier stammt also aus Fabriano.

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font=»|700|||||||» text_font_size=»25px» custom_padding=»20px|||» text_font_size_tablet=»22px» text_font_size_phone=»20px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Diskussion des Befundes

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font_size=»18px» text_font_size_tablet=»17px» text_font_size_phone=»16px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Verglichen mit z.B. den Notariatsakten des Archivs von Genua erscheint das erste Papier der Sittener Reihe als verhältnismässig jung. Doch zeigen sich in der Abfolge der Papiersorten deutliche Unterschiede in Format und Qualität [Tabelle 2]. Das älteste Papier entspricht, abgesehen von der auffälligen Blattdicke, einer guten arabischen Qualität, während die anderen Papiere des orientalisch anmutenden Typs in einer oder mehreren Eigenschaften vom üblichen arabischen Typ abweichen, auch wenn die Stoffmahlung bei diesen Sorten vom europäischen Standpunkt aus gesehen als mangelhaft erscheint. Es handelt sich unbestritten um Hadernpapiere aus Leinen- und Hanffasern.

Die verwendeten Formate sind verschieden; ausser dem in spanischer, südfranzösischer oder ligurischer Tradition stehenden Quartband A7bis sind sie gar nicht oder nur sehr wenig beschnitten; die Büttenränder sind teilweise noch sichtbar. Deshalb können die Bogenmasse zu Überlegungen über die Herkunft führen. Die „klassischen“ arabischen Bogenmasse des Nahen und Mittleren Ostens kommen nicht vor; hingegen ist in der ersten und dritten Papiersorte die kanonische, arabische Elle als Grundmass zu erkennen. In der vierten Sorte dient der lombardische oder Mailänder Fuss als Ausgangsmass, ebenso für die Fabriano-Papiere der späteren Bände. Die Beziehung zum 1308 in Bologna festgehaltenen Kanon der Bogenmasse zeigt sich in einer allmählichen Annäherung an das „Reçute“ genannte Format.

Die Kettfeld-Breiten sind zu unregelmässig, als dass man sie für eine nähere Bestimmung heranziehen könnte. Aussagekräftiger sind hingegen die anderen Siebspuren. Ein bogenförmig verzerrtes Rippmuster, eine ungleichmässige, schwache Rippung weisen auf ein Bambus- oder Binsensieb hin, während gleichmässige, scharfkantige Rippungen auf Drahtrippen schliessen lassen. Diese Beobachtung trifft auch auf die Kettlinien zu. Scharfkantige, gerade Kettlinien stammen von Drähten, während schwach oder breit zeichnende, verschwommene, verzerrte oder unregelmässig verlaufende Kettlinien auf Textilgarne als Bindung hinweisen. Die nur wenig verzerrten Ripplinien der späteren Papiersorten (Sorten 3; 4 und 5), die Hervorhebung einer jeden 5. oder 10. Rippe sowie die meist sehr unregelmässig geformten, nicht stark zeichnenden Kettlinien weisen auf Siebe hin, deren Rippen aus Drähten und deren Ketten aus Textilgarn bestehen. Das Textilgarn scheint sich während des Arbeitsprozesses entlang den Rippdrähten seitlich verschoben oder sich vollständig gelöst zu haben. Den Beweis dafür liefert ein in der Briquet-Papiersammlung in Genf befindlicher Originalbogen aus dem Archiv der Stadt Reggio Emilia, datiert 1331, der drastisch die Textilketten in voller Auflösung zeigt. Man darf also annehmen, dass die in Genua oder der Lombardei seit Beginn des 13. Jh. festzustellende Veränderung der aus arabischem Gebiet übernommenen und lokal ausgeübten Papiermachertechnik zunächst darin bestand, die Rippen des reparaturanfälligen Bambus- oder Binsensiebs durch die eben erst aufkommenden Metalldrähte zu ersetzen, die aber noch wie bisher mit Garnketten festgebunden waren. Die Stoffaufbereitung wurde noch längere Zeit nach arabischem Muster (also mit Wippstampfen oder dem Kollergang) durchgeführt; jedoch scheinen mit der Zeit Versuche, einen besser aufbereiteten Stoff zu erhalten, durchgeführt worden zu sein. Leider erlauben es die gestrichenen Papiere in Sitten nicht, in Durchsicht festzustellen, ob sie im Eingiess- oder im Schöpfverfahren hergestellt worden sind; ebenfalls sucht man vergeblich nach Spuren von Sieb- und Filzseite oder eines Pressvorgangs. Die weitere Verarbeitung (Ablegen, Trocknen, Streichen mit Weizenstärke, Polieren) entsprechen prinzipiell der arabischen Technik. Es ist jedoch festzuhalten, dass die jüngeren Papiersorten der Manuskripte von Sitten eine auffällige Veränderung der Strichsteifigkeit und der Konsistenz aufweisen, die auf das Auftragen einer immer dünneren Schicht von Streichmasse zurückzuführen ist. Das aufgefundene Zickzack-Muster bestätigt den westarabischen (also in Spanien und dem Maghreb nachgewiesenen) Produktionstyp.

Die in Sitten vorgefundenen Papiere mit „orientalischem“ Aspekt lassen sich in zeitlicher Reihenfolge wie folgt charakterisieren: Der älteste Typ, vor 1275 zu datieren, steht dem arabischen Typ sehr nahe. Einzig das im Vergleich etwas dickere Rohpapier und der übermässig dicke Strich unterscheiden ihn von der arabischen Tradition. Die späteren Papiere (aus der Zeit vor 1276 bis vor 1310), sind von ähnlichem Typ, zeigen aber einen Wechsel in der Siebkonstruktion, wie er von den gleichzeitigen Papieren des arabischen Raums (Persien, Nahost, Nordafrika, Spanien) nicht bekannt ist, sowie eine stete Verdünnung des Strichs, der schliesslich zu einer eigentlichen Leimung wird. Zudem entsprechen die Bogenmasse nicht mehr den überlieferten arabischen Sorten. Sie erinnern an die ersten Papiere ligurisch-lombardischen Ursprungs.

Ab ca. 1310 findet sich eindeutig identifiziertes Fabriano-Papier, das alle Merkmale des „klas-sischen“ mittelalterlichen europäischen Papiers, auch Wasserzeichen, trägt. Stoffaufbereitung (im Stampfwerk), Siebpaar (Arbeitsteilung zwischen Schöpfer und Gautscher unter Verwendung von zwei Sieben gleichen Formats), der Unterschied von Sieb- und Filzseite (festes Drahtsieb; Gautschen auf Filze, Pressen) und die Tierleimung deuten auf die Herstellungsweise hin, die sich für Handbüttenpapiere bis in die Moderne erhalten hat.

Das Auftreten von Fabriano-Papier führt zur Frage nach der Herkunft der früheren Papiere und nach deren Transport- und Handelsweg. Leider scheinen sich in den Akten des Sittener Domstifts keine Aufzeichnungen über Papierbezüge erhalten zu haben. Angesichts des grossen Gewichts von Papier ist aber ein Transport über die Alpenpässe trotz der geographischen Nähe als eher unwahrscheinlich zu bezeichnen. Vielmehr ist anzunehmen, dass wie im Falle des von Gerardy nachgewiesenen Papierhandels von Fribourg der Transport zu Wasser erfolgte, und zwar über die Häfen der ligurischen Küste zu den Häfen des Golfe du Lion und von dort über die Rhone flussaufwärts zum Lac Léman. Für Fabriano-Papier ist der Transport in Ballen zur See von Talamone (südlich Grosseto) zu den Häfen von Aigues Mortes und Montpellier nachgewiesen.

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font=»|700|||||||» text_font_size=»25px» custom_padding=»20px|||» text_font_size_tablet=»22px» text_font_size_phone=»20px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Schlussfolgerungen

[/et_pb_text][et_pb_text _builder_version=»3.16.1″ text_font_size=»18px» text_font_size_tablet=»17px» text_font_size_phone=»16px» text_font_size_last_edited=»on|phone»]

Mit grösster Wahrscheinlichkeit stammt das in den Notariatsregistern des Domstifts von Sitten verwendete frühe Papier aus Genua oder der Lombardei. Es stellt den Übergang vom byzantinisch-arabischen Papier, das nach überlieferter arabischer Technik hergestellt wurde, zum europäischen Papier dar, indem vor allem Änderungen der Schöpfsiebkonstruktion (Drahtrippen) nachgewiesen werden können. Die Ausbildung des europäischen Papiertyps als Folge von weitreichenden technischen Änderungen (Stampfwerk nach Vorbild der Tuchwalke, festes Drahtschöpfsieb mit Wasserzeichen, Gautschen auf Filz, Pressen und Legen, später die Tierleimung) scheint sich in Ober- und Mittelitalien, sicher in engem Zusammenhang mit der Entstehung des Papiermacher-Handwerkszentrums von Fabriano, ausgebildet zu haben, wie auch der Kanon der Papierformate von Bologna nahe legt.

[/et_pb_text][/et_pb_column][/et_pb_row][/et_pb_section]