Buchkunst und Buchgestaltung im 19. Jahrhundert – Eine Neuerscheinung

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von Nana Badenberg

sph-Kontakte Nr. 104 | Juli 2017

Der 2016 unter den Auspizien der Maximilian- Gesellschaft erschienene Band Die Buchkultur im neunzehnten Jahrhundert hätte für sich schon das Zeug zu einem Standardwerk, wäre er nicht ‹nur› Teil eines grösseren Werkes, nämlich Teilband II/I: Zeitalter, Materialität, Gestaltung. Das sind keine geringfügigen Aspekte des Themas, und so ist ein in sich geschlossen wirkender, gewichtiger und der Lektüre lohnender Band entstanden. Hatte sich der 2010 erschienene erste Band vor allem mit den Herstellungsaspekten und technischen Grundlagen der Buchkultur beschäftigt, so geht es nun vornehmlich um Fragen der Gestaltung. Im Zentrum stehen daher die Ausführung des Titelblatts und der Werksatz. Letzterer untergliedert nach den Gattungen Lyrik, Drama, Prosa und Sachtexten. In dem noch ausstehenden zweiten Teilband wird es dann – das sei bereits vorfreudig annonciert – um Schriften, Einbandgestaltung und Illustrationen gehen.

Monika Estermann, die eingangs den grösseren kulturhistorischen Kontext des Buches und seiner Inhalte schildert, bringt einem wichtige Aspekte des oft vorschnell als historistisch abgetanen Jahrhundert nahe, zeigt, dass und wie technischer Fortschritt und das Festhalten an Vorbildern und Musterbüchern einander bedingten. Vor allem macht sie deutlich, dass das 19. ein langes Jahrhundert war, eines der Leser (dank der rapide zunehmenden und gegen Ende fast vollständigen Alphabetisierung) und eines der Ausstellungen (der Weltausstellungen wie auch der fachspezifischen, deren erste, allein dem Buch gewidmete die Londoner Caxton-Ausstellung 1877 war). Es endete buchgeschichtlich mit der Bugra 1914, jener legendären Ausstellung für Buchgewerbe und Grafik in Leipzig, in deren Verlauf der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Epochenzäsur setzte. Auch die Reformbewegungen, die um die Jahrhundertwende mit dem Musterglauben der vorhergehenden Generation abrechneten (wie etwa Peter Behrens in seiner Eröffnungsrede für die Ausstellung auf der Darmstädter Mathildenhöhe) und ihm mit den Naturformen des Jugendstils neue und eigene gestalterische Formen entgegensetzten (Olbrich, Muthesius, van der Velde waren auch Buchgestalter), sind also Kinder des 19. Jahrhunderts. Das Berufsbild – ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet – wandelte sich: neben den Faktor und Korrektor traten im letzten Drittel des Jahrhunderts Hersteller, Lektor und Typograf mit deutlicher konturierten Kompetenzen. Die Arbeitsbedingungen wurden strenger, die industrielle Fertigung löste die Gemeinschaft der Handwerker und ihre Bräuche ab. Doch entstanden mit den Reformbewegungen vermehrt auch Kunstgewerbeschulen, die Ausbildung und Handwerk neuerlich stärkten.

Ebenso ergiebig wie erfreulich ist der kulturhistorische Blick, mit dem Estermann die Entwicklung des Buches und der Buchgestaltung betrachtet (sie kann sich dabei auf den Leipziger Kulturhistoriker Karl Lamprecht berufen, der die Bugra konzipierte), denn erst im grösseren sozialgeschichtlichen Rahmen wird deren übergeordnete Bedeutung ersichtlich, und auch die Typografie spricht dann Bände. So führte etwa die Reichsgründung zu Bemühungen um eine einheitliche Orthografie; Conrad Dudens Orthographischer Wegweiser erschien dann 1881. Und mit dem Ende des «ewigen Verlagsrechtes» 1867 wurden die Rechte an den Klassikern frei (zum Leidwesen Cottas); die Edition von Nationalliteraturen hatte infolge Konjunktur – nicht nur Reclams Universal-Bibliothek profitierte davon, auch Brockhaus, Kürschner und viele andere.

Breitesten Raum nimmt in dem Band der Satz und hin die Frage der typografischen Gestaltung ein. Durchaus zurecht und von Monika Estermann an Einzelbeispielen mit Detailkenntnis vorgeführt, denn hier fanden im langen 19. Jahrhundert entscheidende Veränderungen statt. Vom Accidenzsatz, der verschiedenste Schriftarten und Verzierungen zusammensetzt (historistische Titelblätter bedienten sich seiner), unterscheidet sich der sogenannte Werksatz durch kompaktere Einheitlichkeit und mithin auch klar formulierte Regeln. Hatte sich in der Klassik eine lockere Gestaltung mit Einzügen und Weissräumen durchgesetzt, so besann man sich Ende des Jahrhunderts auf den kompakten Satz der Inkunabelzeit, ohne «überflüssige Löcher, Spatien, weiße Stellen, ‹Vacats› », wie es in einer zeitgenössischen Quelle hiess (zit. 194). Und Johann Jakob Webers Katechismus der Buchdruckerkunst formulierte 1901 ebenfalls auf die Frühzeit des Buchdrucks rekurrierend: «diese Bücher waren bestimmt, langsam, Wort für Wort durchgelesen zu werden, von einem hastige Nachschlagen wie in unserem Konversationslexikon war damals noch nicht die Rede. Jedes Wort galt gleichviel, und keines sollte überhaupt hervor- oder zurücktreten» (ebd.). Tatsächlich war das 19. Jahrhundert mit seinem Historismus ein Zeitalter der Lexika – das Grimm’sche und Adelungs Wörterbuch werden hier exemplarisch abgehandelt. Dass jedoch gegen ein allzu «hastiges» Lesen durchaus typografische Hervorhebungen und Eigenheiten eingesetzt werden konnten, zeigt Estermann am Beispiel Friedrich Nietzsches. Der Philosoph widersetzte sich der Sachlichkeit der Informationsvermittlung und wollte seinen Büchern, wie er dem Verleger im Falle von Jenseits von Gut und Böse schrieb, ein «möglichst vornehmes und ‹unpopuläres› Gewand geben» (dazu passte seiner Meinung nach ein «feines Velin»); vor allem aber setzte er, so Estermann, auf eine «geradezu ‹rhetorische› Typografie» mit vielen Sperrungen und Gedankenstrichen, die «wie Stolperdraht wirken sollten» und die Lektüre verlangsamen (219).

Nietzsche ist ein gutes Beispiel für die zunehmende Emanzipation und das Selbstbewusstsein der Autoren, das sich eben auch in deren Einmischung in die Gestaltung ihrer Werke äusserte. Schon Schiller machte sich für die zu wählende Schrifttype seiner Werke stark – bei der Jungfrau von Orleans etwa bat er um «schöne lateinische» Schrift und ein Format, so gross, «dass die fünffüssigen Jamben nicht gebrochen zu werden brauchten» (zit. 308) –, während Goethe im Falle der Cotta’schen Ausgabe letzter Hand der gefälligen Schrifttypenwahl Wilhelm Reichels lobend zustimmte. Insbesondere an den Klassikerausgaben lässt sich die typografische Entwicklung im Laufe des Jahrhunderts trefflich zeigen. Das wird bereits beim Durchblättern der gut gewählten und üppig illustrierten Beispiele deutlich, insbesondere bei Goethe. Schon Johann Friedrich Unger hatte sich von Goethes Werken herausgefordert gefühlt, die «größten Anstrengungen» seiner Kunst zu unternehmen, doch verzichtete seine klare und wohl proportionierte Raumaufteilung auf Buchschmuck. Ähnlich verhielt es sich bei Cotta. Verschiedenste Werkausgaben folgten nach 1867, jenem Jahr, in dem Reclam die ersten beiden Bände seiner Universal-Bibliothek dem Faust zugestand. Doch erst um 1900 wurde diese Tragödie auch editorisch populär und als (über)nationale buchgestalterische Herausforderung angesehen und angenommen. Estermann spricht von einer regelrechten «Konkurrenzsituation». Angefangen mit der 1906/10 erschienenen Ausgabe der Doves Press mit auffällig langgestreckten Initialen über die eher brave Edition von Emil Rudolf Weiß, der allerdings aus der in Vergessenheit geratenen Ungerfraktur eigens eine neue Type entwickelte, bis hin zu Fritz Helmuth Ehmckes auffällig eigenwilliger Gestaltung, die 1912 bei Eugen Diederichs erschien. Ehmcke wählte die Breitkopf-Fraktur (die übergrossen Lettern der Titel mussten gezeichnet werden), und einen weit eingezogenen, blockhaften Satz, der eher dem der Lyrik entsprach, deutliche Begrenzungslinien und eine strikte Abtrennung, ja Degradierung der Regieanweisungen in Form von Marginalien. Letztlich eine Auflösung der genrespezifischen Typografie.

Für Papierinteressierte von besonderem Interesse sind die beiden letzten Kapitel, die lapidar «Papier» und «Buntpapier» überschrieben sind und für die Frieder Schmidt verantwortlich zeichnet. Auch was das Papier betrifft, erweist sich das 19. Jahrhundert als ein langes, und so lässt Schmidt es mit dem Papierhandel um 1775 und der zunehmenden Verbreitung des Velinpapiers beginnen, behandelt die im Zeitalter des Maschinenpapiers zunehmende Ausdifferenzierung und Diversifikation der Papiersorten, die sich im Buchsortiment widerspiegelte, denn nicht selten wurde ein Titel in verschiedenen Papierqualitäten angeboten, und gibt schliesslich der papierkundlichen Fachliteratur als so spannender wie informativer Quelle breiten Raum. Hier erstaunt besonders, wie früh schon vor dem Holzschliff (auch er ja eine Erfindung des 19. Jahrhunderts) gewarnt wurde. So empfahl Otto Winckler in seinem 1887 erschienenen Werk Der Papier-Kenner für den Druck besonders Papiere aus Baumwollfasern, von der Verwendung von Holzschliff «als billigstem Stoff» riet er hingegen ab: «Jeder Käufer sträube sich ein Buch mit Holzschliff haltendem Papier zu kaufen. Dasselbe kann meist den geringsten Anforderungen an Haltbarkeit nicht entsprechend.» (Zit. S. 416) Noch schärfer formulierte der Badenser Heinrich Hansjakob in seinen zehn Jahre später publizierten Tagebüchern: «Das Holzschliffpapier wird nur literarische Schutthaufen hinterlassen, und jene Archivare werden bloss Tagelöhner brauchen, welche mit Besen und Schaufeln die Sägemehlhügel aus den Archiven wegschaufeln …» (Ebd.)

Das Papier, das man heute am stärksten mit der Buchkunst des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringt, ist sicherlich das Buntpapier; es wurde vielfach, als Einbandbezug, als Vorsatz- oder als Titelpapier, verwendet. War seine Erstellung im vorangegangenen Jahrhundert vornehmlich ein der Buchbinderei zugehöriges Handwerk, so wurde sie nun der Industrialisierung unterworfen. Insbesondere Aschaffenburg entwickelte sich zu einem Zentrum der Buntpapierherstellung (Schmidt stellt hier die verwickelte Geschichte der Dessauer’schen Buntpapierfabrik aus verschiedenen Blickwinkeln dar). Und die Chemische stellte mit den Anilinfarben bald schon eine breite Palette zur Verfügung. Maschinen kamen auf, insbesondere Kalander, die den mühsamen Arbeitsschritt des Glättens übernahmen, die aber auch neue Papiersorten ermöglichten: das Maroquinpapier etwa, das seine ledern anmutende Maserung durch gravierte Pressplatten erhält. Auch andere Imitatpapiere waren en vogue: Holz wurde ebenso nachgeahmt wie Satinund andere Stoffe, Stroh, Elfenbein oder Perlmutt. Überhaupt die Papiersorten: immer mehr wurden es, doch viele serienmässig gefertigt und das einst nötige handwerkliche Geschick technisch umgehend. Das frühe Augsburger Kattunpapier wurde mit Modeln (entsprechend dem Textil- und Tapetendruck) gefertigt, die komplizierte Marmorierung des Schnitts durch «Abziehbilder» ersetzt, und beim sogenannten Gustav-Marmor, der wohl bekanntesten der vielen Pseudomarmorierungen, wurde ein einfarbig grundiertes Papier kurzerhand mit einer Eisenvitriollösung besprenkelt. Spätestens hier zeigt sich, dass der Ausdruck Marmorpapier eher auf dem Aussehen gründet als auf der Technik; bei den ‹echten› Marmorpapieren wäre daher präziser von Tunkpapieren zu sprechen. Vorsicht ist also geboten bei den Begriffen, die selten einheitlich verwendet werden und oft irreführend sind. Vielleicht auch deshalb wurden mit der Diversifizierung der von den Buntpapierherstellern angebotenen Produkte die Musterbücher immer umfangreicher. Sie sind eine informative und anschauliche Quelle, wie uns Frieder Schmidt in seiner ihr darin in nichts nachstehender Darstellung vor Augen führt. Und trotz Mechanisierung und Popularisierung der Marmorierkunst kann von einer handwerklichen Verfallsgeschichte keine Rede sein. Das beweisen nicht nur die Prachtausgaben der Gründerzeit, sondern mehr noch das zunehmende Selbstbewusstsein der Buchgestalter und Buchgestaltung. Ende des Jahrhunderts war manch geschickter Marmorierer als namhafter Experte bekannt. Privatpressen kamen auf, doch auch die mechanisierte Buntpapierproduktion engagierte namhafte Künstler wie Walter Crane, Josef Hoffmann oder Koloman Moser für die Entwürfe.

Der opulent ausgestattete Band selbst verzichtet auf Buntpapier. Gedruckt ist er auf holzfreiem, mattsatinierten Geese-Spezial-Offset, ein Papier, das sich angenehm anfasst und auch die vielen farbigen Abbildungen gut zur Geltung bringt. Übrigens: «Unter der Bezeichnung ‹Bücherpapier›», so Der Papier-Kenner 1887, «versteht der Papierhändler festes Papier für Contor- und Bureau-Bücher, nicht für Druckwerke, wie man wohl annehmen könnte.» (Zit. S. 412)

Monika Estermann und Frieder Schmidt: Die Buchkultur im
19. Jahrhundert. Band II, I: Zeitalter, Materialität, Gestaltung.
Hamburg: Maximilian-Gesellschaft 2016, 504 S., Leinen, €
100.–