Beeinflussung von Struktur und Haptik im handgeschöpften Papier

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von Hanspeter Leibold

sph-Kontakte Nr. 99 | August 2014

Der optische Eindruck und die Haptik bekommen heutzutage immer mehr Wichtigkeit beim Papier. Sie sind die wichtigsten und greifbarsten Unterschiede zu den monotonen, gleichartigen Bildschirmen.

Ein Blatt Papier können wir auf verschiedene Weise wahrnehmen:

  1. optisch durch unsere Augen,
  2. akustisch durch unsere Ohren,
  3. haptisch, sensorisch durch unsere Finger, unser Fingerspitzengefühl, mit dem man bis zu 50 μm fühlen kann. Zum Vergleich, die Lippen erkennen noch 10 μm, die Zungenspitze sogar noch 5 μm. Ist das ein Grund, dass man manche Leute küsst und anderen nur die Hand gibt?

Selten braucht man alle drei Erkennungsarten, meist aber die optische und haptische Wahrnehmung, die in gewisser Weise zusammengehören.

Papier hat vielfältige Erscheinungsformen, die sich zum Beispiel mit folgenden Adjektiven beschreiben lassen: narbig, rauh, steif, stumpf, griffig, glatt, schwer, leicht, undurchsichtig, unzerreissbar, strukturiert, stofflich, wolkig, leuchtend, transparent, dicht, durchlässig, fest, zerbrechlich, feinfühlig,  zart, stark, weich, grob, anschmiegsam, samtig, ledrig, leise, laut, matt, gehämmert, gekörnt, glänzend, farbig, bunt.

In der frühen Geschichte des Papiers spielte die Haptik keine so grosse Rolle, und die Struktur des Papiers war einfacher Natur. Dies bestätigt auch das Ständebuch von Jost Amman in dem Gedicht von Hans Sachs aus dem Jahre 1568 «Der Papyrer»: «[…] Denn hench ichs auff / lass drucken wern / Schneeweiss und glatt / so hat mans gern.»

Beim damaligen Papier boten allerlei Unebenheiten dem Druckstock, der Druckplatte, der Letter oder der Schreibfeder Widerstand. Dem versuchte man durch das Glätten abzuhelfen. Bogen für Bogen wurde von Hand auf einer harter Unterlage – der Glätteplatte – mit einem Achatstein abgerieben, und so wurde damals die grösstmögliche Oberflächengleichheit erreicht.

Später, im 16. Jahrhundert, kam noch ein anderes Verfahren auf: Die Papierbogen wurden buchweise, also 24/25 Bogen zugleich, unter einen schweren Schlaghammer, den Glättehammer, gebracht und gehämmert.

Um beim Druck die Lettern und die Druck­stöcke zu schonen, musste das Papier zusätzlich in einen kellerfeuchten Zustand versetzt werden. Dies ergab dann auch ein gleichmässigeres Druckbild aufgrund des ausgeglichenen Pressendrucks. Soll ein Bogen beschrieben werden, muss er neben der Gleichmässigkeit und der Glätte auch noch die Eigenschaft aufweisen, dass die Tinte schnell trocknet.

Die Eigenschaften des Papiers für ein gutes Bedrucken im Tief-, Hoch- und Buchdruck oder ein Beschreiben mit dem Federkiel hatten also Vorrang. Deshalb war man sehr froh, als man um 1750 das Metall so dünn ziehen konnte, dass man es im Webstuhl weben konnte und gewobene Siebe die ehemals einzige Art des gerippten, gebundenen Vergésiebes ablösten. Das grobgerippte Vergépapier wurde durch das strukturlose Velinpapier ersetzt. Dadurch konnte man das Papier nun auch im Trockenzustand be­drucken.

In der heutigen Handpapiermacherei spielt Struktur und Haptik eine grosse Rolle, da immer mehr «kreative», unikate Papiere gefragt sind, die sich stark von den «normalen» Papieren der Papierindustrie unterscheiden.

Ja, es ist so, dass sogar die Industrie versucht, handgeschöpfte Papiere zu imitieren und Bütten­papiere – wohlgemerkt keine handgeschöpften Bütten­papiere – auf den Markt bringt.

Dabei werden z.B. besonders wolkige Papiere mit unregelmässigen Oberflächen hergestellt oder die Ränder gerissen oder mit einem Wellenmesser geschnitten.

Im Folgenden sollen Kriterien benannt werden, die in der Handpapiermacherei wichtig sind sowie verschiedenartige Grundmaterialien und massgebliche Arbeitsprozesse. Die wichtigsten Schritte in der Folge des Arbeitsprozesses und des Arbeitsfortschrittes sind:

  1. Fasermaterial
    Je nach Wahl der Rohstoffe, des Fasermaterials, ergeben sich jeweils eigene Papiere. Als extremes Beispiel kann man Fasermaterial der Baumwolle, einem Rohstoff für weiches Papier, gegen den Rindenbast von Kotzu und Mitsumata halten, einem inneren Rindenbast aus Japan, der fast unzerreissbar ist. Leinen und Hanf ergeben ein festes Papier, weil eben ihre Fasern von starker Struktur sind und im Verband fest zusammenhalten. Ein Grundstoff, der besonders im Himalayagebiet zum Halaripapier verwendet wird, der Seidelbast, ergibt eine interessante, eigene Faserstruktur. Ein besonders wertvoller Rohstoff sind Hadern – alte Lumpen. Durch den bisherigen Gebrauch und durch das Waschen der Leinen- und Baumwollgewebe bleiben nur noch lange Fasern übrig, die man besonders gut zu ganz besonderen Papieren verarbeiten kann.
    Zusammengefasst: Der Einsatz eines geeigneten Rohstoffs ist für das Endprodukt auch in der Haptik von ausschlaggebender Bedeutung.
  2. Mahlgrad
    Die Festlegung des Mahlgrades (schmierige Mahlung oder rösche Mahlung) bestimmt auch die Oberfläche und Feinheit der Papiere. Daneben ist er massgebend für den «Klang».
    Eine «Rösche Mahlung», z.B. mit einer Mahlung von 30° SR, ergibt «leises Papier», eine  «schmierige Mahlung, z. B. 80° SR, hingegen «lautes Papier».
  3. Grammgewicht
    Die Grammatur des einzelnen Bogens ist ein weiteres Element, das für die Haptik eine Rolle spielt: Je nachdem wird das Blatt als dünngriffig und fein oder dickgriffig und fest empfunden.
  4. Papiereinlagen
    Eventuelle Papier- oder sonstige Materialeinlagen in der Pulpe ergeben eine punktuell ungleichmässige Dicke der Papiere und damit einen besonders starken haptischen Effekt. Zu erwähnen sind hier etwa Blumen und Blätter, Gräser, Samen, Gewürze, Küchenkräuter, Tannennadeln, Baumrinde, Schnüre, Papierschnitzel usw. Als Nebeneffekt entstehen dabei teilweise interessante Duftnoten, die allerdings nur kurzzeitig wahrnehmbar sind und durch weitere Beigaben wie z.B. durch Rosenwasser  noch verstärkt werden können. Das wäre also neben der optischen, akustischen und haptischen Wahrnehmung noch eine vierte, die des Geruches.
  5. Zusatzstoffe, Füllstoffe
    Füllstoffe sind in der Handpapiermacherei unüblich. Sie geben aber dem  Papier eine glattere Oberfläche, da diese Stoffe die Faserzwischenräume ausfüllen und Unebenheiten egalisieren.
    Das Stärken der Pulpe durch natürliche Stärkemittel wie z.B. Kartoffelstärke oder Reisstärke erhöht die Festigkeit und Steife des Papierblattes.
  6. Siebe
    Die Art des Siebes bestimmt die Griffigkeit, die Dicke und die Struktur. Der Deckel gibt  das Format vor und die Höhe des Deckels bestimmt die Dicke des Papiers. Die Wahl der Siebstruktur im Schöpfsieb (Velin/Vergé) und die Anzahl Drähte auf 1 cm2​­ bzw. die Drahtdicke ergeben ein glattes, flächig un­strukturiertes oder ein siebstrukturiertes Blatt. Einen Einfluss darauf hat auch das Sieb­material selbst. Man kann Unterschiede zwischen einem Bronzesieb, einem Sieb aus Kupfer oder Messing und einem Kunststoffsieb feststellen.
  7. Gautschfilze
    Die Wahl der Gautschfilze (z.B. Markierfilze) ist massgebend für die Strukturen im Blatt: glatt oder filzstrukturiert.
  8. Nasspressendruck
    Der hohe Pressendruck in der Nasspresse erzeugt festes Papier, die einzelnen Fasern werden fest aneinander­gepresst. Bei geringem Druck bleibt das Papier voluminöser, ohne grosse Festigkeit.
  9. Trocknung
    Durch die Art der Trocknung kann man die Oberflächenstruktur zusätzlich beeinflussen. Ein schnelles Trocknen, z.B. in einem Elektrotrockner unter Druck, ergibt eine glattere, geschlossenere Blattoberfläche, ein langsames Trocknen an der Luft ergibt ein «griffigeres» Papier.
  10. Trockenpressen
    Das Pressen des Papiers nach dem Trocknen verleiht dem Blatt eine zusätzliche Form- und Dimensionsstabilität und Gleichmässigkeit nebst einem letzten mechanischen Oberflächenschluss.
  11. Weiterbearbeitung
    Die Weiterbearbeitung des fertigen Papierblattes hat natürlich weitere Einflüsse auf dessen Oberfläche und Struktur. Eine nachträgliche Oberflächenleimung (Gelatinierung) schafft ein in sich geschlosseneres Äusseres. Das Prägen im kellerfeuchten Zustand auf glatter Unterlage erzeugt beim handgeschöpften Papier verschiedenartige Strukturen, ähnlich einem kalandrierten Maschinenpapier. Zum Prägen eignen sich besonders grossflächige, leicht erhabene Formen bis zu einer Höhe von ca. 5 mm wie z.B. Formbleche, Stickmuster etc. Für punktuelle Prägungen lassen sich spezielle Formen wie Springerle-Formen, Holzmodel, ­Ornamente, Lettern, Clichés, Flachplastiken etc. ­verwenden. 
  12. Paper Art
    Alle bislang genannten Massnahmen werden für «normale Papiere», Druck-, Schreib- und Aus­stattungspapiere verwendet.

In der Paper Art erfährt das Papier eine weitere Steigerung, eine experimentelle Erweiterung der «normalen» Techniken im Hinblick auf seine ­haptische Materialität. Den innovativen, künstlerischen Impulsen sind dabei keine Grenzen gesetzt; Papier kann grundsätzlich jede Form und jede Struktur annehmen.

Die Kunst handgeschöpfte Büttenpapiere zu ­fertigen, besteht darin, ein kreatives, wertvolles Papier herzustellen, das sich von den Maschinen­papieren optisch und haptisch stark unterscheidet, ohne jedoch die optimale Bedruck- und Beschreibbarkeit oder ­seinen sonstigen Gebrauch zu beeinträchtigen. Es gilt dabei keinesfalls die Präzision der Papier­maschine zu imitieren, im Gegenteil, das Handwerk soll immer sichtbar oder zumindest erkennbar ­bleiben.

Die Herstellung von Papier, ob handgeschöpft oder maschinell, mit verschiedenen Grundmaterialien und differenzierte Gestaltung der Oberflächen, vermittelt dem Benutzer Wert, Fasslichkeit, Charakter und Einmaligkeit des Kulturguts Papier.

Die Vielfalt von Papieren mit ihren differenten Eigenschaften ist – neben der Zuverlässigkeit und Haltbarkeit – ein massgebendes, von jedermann spürbares und ersichtliches  Argument gegen die sterile, kalte und unpersönliche  Bildschirmkommunikation.