Luxuspapier

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von Gerhard Becker

sph-Kontakte Nr. 98 | Januar 2014

Während des Zeitraums von 1860 bis 1930 wurde der Begriff ‚Luxuspapier‘ für besonders gestaltete und veredelte Papiere verwendet, deren Stellenwert in der Alltagskultur massenhaft produzierter Populärgraphik anzusiedeln ist. Heute sind diese Objekte mit ihrer oftmals dem Kitsch wie der sentimentalen Idyllisierung nahestehenden Motivik zu begehrenswerten Sammelgegenständen geworden. Zeitweise wurden sie auch als ‚Phantasiepapiere‘ bezeichnet.

Der Autor dieses Artikels konnte vor zwei Jahren eine umfangreiche Sammlung originalen Luxuspapiers erwerben, was ihn zur Beschäftigung mit dieser faszinierenden Materie geführt hat.

Im vorliegenden Artikel wird eine kurze Übersicht über die Luxuspapierindustrie gegeben. Zu einem späteren Zeitpunkt werden in dieser Zeitschrift einzelne Aspekte intensiver betrachtet.

Definition

Im «Offiziellen Ausstellungsbericht der Wiener Weltausstellung 1874» ist der Ton nahezu schwärmerisch: «Nicht zufrieden mit der Rolle, die die nüchterne Geschäfts- und Utilitätsindustrie ihm angewiesen, überschreitet das Papier die Grenzen des Alltäglichen, und betritt das Reich des Luxus und der Phantasie in Gestalt von Blumen und Blättern, von reich verzierten Liebesbriefen, Karten …, als Fächer und Bouquethalter … und Tausende von Menschenhänden sind heute in allen civilisirten Ländern damit beschäftigt, die prachtvollsten Blumen und Knospen aus Papier hervorzuzaubern, die an Schmelz und Farbe die natürlichen fast übertreffen, um Spitzen und Fransen, um Silber- und Goldborden, um Glanz- und Lackpapiere … zu erzeugen …die das Auge des Beschauers erfreuen.»  (zitiert nach: Pieske 1984, S. 10). Der Schauwert der gestalteten Papiergegenstände ist sehr beeindruckend.

Um den eigengesetzlichen Anspruch ‚Luxus­papier‘ zu erfüllen, werden vier Kriterien herangezogen, die dessen Herstellung umreissen:

  1. Chromolithographisches Druckverfahren.
  2. Prägen und Stanzen (Ausschlagen).
  3. Kolorieren (Bemalen).
  4. Montieren (Ausstaffieren, Kleben, Falten).

Auf technische Einzelheiten wird noch detaillierter eingegangen.

Man kann den Luxuspapier-Begriff gegenwärtig noch dahingehend erweitern, dass auch das Sammeln der vielseitigen Erzeugnisse das Budget ‚luxuriös‘ angreifen kann (auf einige Preisvorstellungen wird weiter unten Bezug genommen). Desgleichen wäre der originale Herstellungsprozess heutzutage mit enormen Kosten befrachtet.

Erzeugnisse

Durch die Zunahme der Lesefähigkeit im 19. Jahrhundert gewann die Kombination Bild – Wort an Bedeutung. Luxuspapiere dienten als Botschaftsträger für Glückwünsche, Trauerbezeugungen, Freundschaftsgrüsse, Patriotismus, häusliche Idylle und Harmonie, Taufe, Konfirmation, Kommunion u.v.m. Die schier unüberschaubare Vielfalt an Produkten sei nachfolgend mit einer Auswahl aus den mannigfaltigen Objekten kurz vors geistige  Auge gestellt. Nach dem Abschnitt über die Herstellungsverfahren wird anhand einiger herausgegriffener, durchaus repräsentativer Gegenstände auf deren Funktion und Kontext verwiesen:

Abziehbilder , Alben, Andachtsbilder, Ansichtskarten/Bildpostkarten, Briefpapier, Christbaumschmuck, Cotillon-Orden, Kranzbilder, Etiketten, Familienanzeigen, Fleissbildchen, Glückwunschkarten, Hauchbilder, Haussegen (auf Papierkanevas gestickt), Kalender, Karnevalartikel, Knallbonbons, Kommunionszettel, Kranzschleifen, Lampenschirme, Laternen, Lesezeichen, Menukarten, Modellier- und Bastelbogen, Oblaten, Papierblumen-, -drachen, -fächer, Krippen, Servietten, Tischtücher, Papprahmen, Sargbeschläge, Patenbriefe, Reklamemarken, Sammelbilder, Schultüten, Spielkarten, Spielzeug, Städte-Rosen, Sterbebilder, Ziehkarten, Klapp- und Kulissenkarten (Aufklapp-, Dreh- und Schiebebilder), Wallfahrtsbildchen, Wandsprüche, Reklameschilder, Zigarrenringe – Bilder für alle Lebenssituationen und -alter, begleitend von der Geburt bis zum Tod (vgl. auch: Allen 1985, S. 27. Gottschalk 1996, S. 26 f.).

Herstellungsverfahren

Die überwiegend verwendete Drucktechnik für Luxuspapiere war die Chromolithographie (chroma = Farbe, lithos = Stein, graphein = schreiben [griechisch]), ursprünglich ein von Aloys Senefelder 1798 erfundenes Flachdruckverfahren. Für jede wiedergegebene Farbe wurde ein eigener Druckstein präpariert. Der mehrfarbige Steindruck ermöglichte Wiedergaben von 15 und mehr unterschiedlichen Farbabstufungen. Den Ablauf dieses sehr aufwendigen Vorgangs beschreibt Dohmen wie folgt (Dohmen 1982, S. 231 ff.): «Ein … Verfahren der Farblithographie ist der Klatschdruck. Die Steine sind für einen Mehrfarbendruck vorbereitet. Die in der Komposition dominierende Farbe … wird zuerst gedruckt. Man legt den frischen Druck, mit Passer­kreuzen versehen, auf einen neuen Stein … Die vorher aufgedruckte Farbe wird nun auf den neuen Stein geklatscht.»

Michael Twyman, emeritierter Professor für Typography and Graphic  Communication an der University of Reading, beschreibt den Herstellungsprozess eindrücklich in seinem Buch «Breaking the Mould»: «One leading writer on lithography, Richmond, suggested that the following fifteen workings were needed for a work of art: a warm tint, two yellows, three blues, three reds, one green, two greys, and three browns … Generally, yellow and other opaque colours were printed first … Dark colours were usually printed last … Cumming, suggested that the draughtsmen should proceed in stages, drawing three or four stones for the lighter colours and then … drawing a few more, proceeding in this way … A central piece of documentation produced for all chromolithographers would have been what are known as progressives – sets of proofs recording each colour separately and its effect on the cumulative production…as guide to the printer …» (Twyman 2001, S. 107 ff.). Wer einmal die ‚Ephemera-Kurse‘ Michael Twymans am L’Institut d’Histoire du Livre in Lyon besucht hat, wird die Fülle des präsentierten Materials und das überzeugende Wissen des Dozenten lebhaft erinnern.

Dem enormen technischen und handwerklichen Aufwand gebührt Respekt. Beim Betrachten der durch frische und vielschichtige Farben beeindruckenden Liebig-Sammelbilder gewinnt man eine Vorstellung von der chromolithographischen Herstellungstechnik. Bei der ‚Berliner Manier‘ z.B. wurden die einzelnen Farben Punkt für Punkt mit feingeschliffener Feder auf den Lithostein gebracht. «Die hellen Partien … konnten noch von Anfängern bewältigt werden, für den entscheidenden Stein in Dunkelbraun … waren nur Meister des Fachs gefragt, denn hier wurden Konturen und Ausdruck festgelegt.» (Pieske 1984, S. 36.) Für besonders hochwertige Chromolithographien konnten sogar zwanzig und mehr Steine Verwendung finden (Allen 1985, S. 10. Siehe auch: Papierzeit 1997, S. 94).

Später löste der farbige Lichtdruck, ein fotomechanisches Flachdruckverfahren, bei dem die Glasplatte mit quellfähiger Gelatine-Chromschicht überzogen wird, das handwerklich intensivere Verfahren ab. Lithographische Handpressen wurden Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts von Schnellpressen abgelöst, wodurch schlussendlich die Massenproduktion erst möglich wurde. 1890 existierten europaweit im lithographischen Gewerbe 2138 Schnellpressen (siehe auch: Pieske 1984, S. 41 ff. und  Ciolina 1987, S. 16). Der bereits grosse Verbraucherkreis wuchs ständig, so dass immer leistungsfähigere Maschinen eingesetzt werden mussten.

Die Technik des Prägens und Stanzens verlieh dem Papier mit der Reliefierung die gewünschte Tiefe,  seine erste Dreidimensionalität. Die hierfür wichtigsten Fachkräfte waren die Graveure, denen die Anfertigung und Präparierung der Stempel, Matrizen und Walzen oblag. Die Zeitschrift des Deutschen Graveurvereins verzeichnet 138 Mitglieder im Jahr 1884 (vgl. Pieske 1984, S. 44). In der Papierzeitung der Luxuspapierfabrik W. Hagelberg  in Berlin wird der Produktionsprozess wie folgt beschrieben: «Die meisten Papiere erfahren nach dem Bedrucken noch eine … körperliche Veränderung durch Prägen oder es wird ihnen doch durch Ausstanzen oder Ausschlagen eine eigenthümliche Form … gegeben. Diese Arbeiten werden beinahe sämmtlich im Erdgeschoss ausgeführt, wo die Prägemaschinen ihres stossweisen Ganges wegen aufgestellt sind. An 36 Schwungkugel-Prägepressen sitzen eben so viele Mädchen, welchen es obliegt, die Papiere auf die vertiefte Matrize, den ‹Stempel›, zu legen, die Schwungkugeln in Gang zu setzen, neues Papier einzulegen u.s.w. … Sobald die scharfen Ränder des Ambosses und des Stempels aneinander kommen, wird das zwischenliegende Papier ausgeschlagen, als wäre es ringsum mit einer Schere beschnitten worden.» (zitiert nach: Pieske  1984, S. 38.) Betrachtet man die dazugehörige gegenüberliegende Ab­bildung, erscheint dieser mechanisch sehr kraftvolle Vorgang nicht ganz gefahrlos.

Das Kolorieren und Montieren, die weitere Verarbeitung und Fertigstellung des Produkts, wurde vielfach in Heimarbeit erledigt. Über die sozialen Bedingungen dieser Arbeit wird weiter unten kurz berichtet. Sehen wir uns zunächst einige ausgewählte Erzeugnisse aus Luxuspapier etwas näher an.

Andachtsbildchen

Dieses äusserst beliebte Genre, das kleinformatige religiöse Einlegebild, ein Massenartikel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, lässt an Druck- und Erscheinungsformen beinahe keine Wünsche offen. Mit Stahlstich (Tiefdruck), Xylographie (Holzstich, Hochdruck) sowie Litho- und Chromolithographie (Flachdruck) vereinen sich hier die Drucktechniken in ihren jeweils gestalteten Ausdrucksformen, in der Produktion geeignet für Prägedruck und Stanzornamentik (z.B. gestanzte Spitzenbilder). Pieske schreibt: «Die angedeuteten technischen Verfahren erforderten für marktgerechte Massenherstellung fachindustrielle Produktionsmöglichkeiten, so dass Andachtsbildchen entweder als Nebenprodukte grosser Bilderfabriken entstanden oder in spezialisierten Kunstanstalten gefertigt wurden.» (Pieske  1984, S. 80.) «Publishers of religious prints were probably the largest suppliers of lithographs …» (Twyman 2001, S. 124.)

Die Firma Benziger in Einsiedeln zählte zu den bedeutendsten Herstellern und Verbreitern dieser Form der visuell eingängigen Volksfrömmigkeit. Immer wirtschaftlich darauf bedacht, dass sich möglichst viele Menschen Andachts- oder Heiligenbildchen leisten konnten, wurden die Preise bei Benziger stets überprüft und angepasst. So kostete ein chromolithographisches Andachtsbildchen im Format 10 : 5 cm um die Jahrhundertwende 3–5 Rappen. Ein Arbeiter verdiente damals ca. 60 Rappen im Stundenlohn (Kälin 2010, S. 23 ff.).

Cotillon-Orden

«Cotillon-Artikel sind, vielleicht mit Ausnahme der ihnen zuzurechnenden Fächer … und Cotillon-Orden …, heute als Gegenstände kaum mehr erhalten.» (Pieske 1984, S. 104.) Der Cotillon (franz. für Frauenunterrock) war ein beliebter Gesellschaftstanz des 19. Jahrhunderts, ein ‚Tanz der Begegnung‘. Nach dem Tanz überreichten die Herren ihren Damen ein Bouquet, die Damen ihren Herren einen Orden. Cotillon-Orden wurden aufwendig chromolithographisch gedruckt, geprägt und gestanzt, teilkoloriert und bei ‚luxuriösen‘ Objekten mehrschichtig montiert. Exquisite Objekte erzielen heute Preise zwischen 400.–  und 600.–  Franken. Oftmals werden Cotillon-Artikel in Zusammenhang mit Karnevalartikeln gebracht, wenngleich ihre gesellschaftliche Funktion gehobenen Stils war.

Oblaten

«Oblaten sind chromolithographierte, geprägte und gestanzte Bildchen unterschiedlicher Grösse, die als Szene (vollrandig oder teilgestanzt) oder als Einzelstück bogenweise hergestellt werden.» (Pieske 1984, S. 189.) Oblaten waren bei Erwachsenen und Kindern gleichermassen beliebt. Als Verzierung in den sogenannten ‚scrap books‘, in teils heute noch verwendeten Poesiealben oder als Klebebilder auf Gegenständen (Luxuskartonagen, Christbaumschmuck) und Lebensmitteln (Lebkuchen) sind Oblaten nicht wegzudenken (siehe auch: Metken 1978, S. 301). Um eine ungefähre Datierung dieser aus Sujets aller  Arten bestehenden Chromobilder vornehmen zu können, sind die Poesialben, beschriebenen und datierten Glückwunschkarten, ‚Valentines‘ etc. von Bedeutung, da in den meisten Fällen konkrete Anhaltspunkte für Produktionsdaten fehlen. Nach dem Druck wurden die Bögen geprägt und gestanzt (ausgeschlagen).  Die fertigen Oblaten waren nun nur noch mit schmalen Papierstegen verbunden, die häufig den Namen der herstellenden Firma trugen. Zu den bedeutendsten Oblatenherstellern gehörte die Luxuspapierfabrik ‚Albrecht & Meister‘ in Berlin, mit Niederlassungen in London, Paris und New York (Allen 1985, S. 130). Oblaten wurden in sehr grossen Mengen hergestellt: «Für den Verkauf an Grosshändler  wurden die Oblaten zu je tausend Bogen gebündelt.» (Allen 1985, S. 11.)

Sammelbilder

Unter diesem Begriff für warenbegleitende Serienbildchen werden zahlreiche Einzelfirmen subsumiert.  Zu den bekanntesten Sammelbildern zählen die ‚Liebigbilder‘, des Weiteren Bilder der Firmen Suchard, Stollwerck, Palmin, Zigaretten- und Kaufmannsbilder usw.  Die mit grossem Aufwand chromolithographisch gedruckten Liebigbilder  der ‚Liebig Extract of Meat Co., Ltd.‘ erschienen ab 1872. Etwa um 1880 bestanden die Serien meist aus einem Set von sechs Bildern zu einem ausgewählten Themenbereich (z.B. Volkskunde, Geschichte, Märchen und Sagen, Mythologie, Handwerk und Technik, Literatur, Vexierbilder, Musik, Naturwissenschaft, Militärwesen, Genrebilder u.v.m.). In dazugehörigen Einsteck-Alben konnten die Reklamebildchen geschützt und betrachtet werden.« So wie der Fleischextrakt selbst ein ziemlich teures Produkt … war, so wurde der Sammelsport, wie man dieses Hobby ausschliesslich nannte, von einem Kinderspass zu einer ernsthaften Angelegenheit für wohlhabende Bürger … Von Arbeitern und in der Landbevölkerung wurden die Bilder nicht gesammelt, dagegen fanden sich Liebigbilder-Sammler selbst unter den Mitgliedern des Hauses Hohenzollern.» (Pieske 1984, S. 234.)

Städterosen

Diese auch ‚The Souvenir Rose‘ und ‚Rosenbouquetts‘ genannten Reiseandenken wurden in Form einer Rose gestanzt und in Segmenten zusammengefaltet (Faltschnitt). Die äusseren Blätter sind mit einer farbigen Rose bedruckt. Ausgefaltet werden zahlreiche kleine Stahlstiche mit Orts- und Umgebungsansichten sichtbar. Diese beliebten Souvenirs wurden in eigens dafür bedruckten Umschlägen verkauft, die heute kaum mehr erhalten sind. Die Abbildung zeigt die Städterose von Washington samt Original-Umschlag.

Ziehkarten, Klappkarten, Netzkappenkarten

Diese populären Formen von Glückwunsch-, Freundschafts- oder Liebeskarten demonstrieren in besonderer Weise die Dreidimensionalität. Bei den Ziehkarten wird mittels einer oder mehrerer Laschen das oben liegende Bildmotiv aufgeklappt resp. ein ausgespartes Fenster geöffnet, wodurch der darunterliegende Text sichtbar oder eingerückt wird.

Bei den Klappkarten (Kulissenkarten) kommt der Arbeitsschritt der Montage und der zusätzlichen Ausstaffierung mit zum Teil anderen Materialien prägnant zum Ausdruck. In kulissenartiger Manier entfalten sich im wahrsten Sinne des Wortes mehrere bühnenraumähnliche Darstellungsebenen.

Eine seltene Form der Raum greifenden Bildchen stellen die sogenannten Netzkappenkarten dar, «…die vom Hersteller ein grosses Können der Papierschneidekunst abverlangte[n]: Eine bildnerische Darstellung [meist chromolithograpisch, früher auch als Aquarell] wurde spinnennetzartig geschnitten. Hob man dieses mittig mit einem Faden hoch, liess es auf einem doppelten Boden einen Vers oder eine zweite Zeichnung erkennen.» (Gottschalk 1996, S. 126.) Intakte Netzkappenkarten sind sehr selten und erzielen Preise um 1’000.– Schweizer Franken.

Hersteller

Mit der Industrialisierung und Technisierung im 19. Jahrhundert, der Entwicklung immer leistungsfähigerer Maschinen wuchsen Fabrikation und Nachfrage in für die Herstellerfirmen lukrative Bereiche. Der wirtschaftliche Höhepunkt der namentlich in Deutschland produzierenden Firmen lag zwischen 1870 und 1895. An der Wiener Weltausstellung 1873 beteiligte sich Deutschland in international anerkannter Führungsposition auf dem Luxuspapiermarkt. Eine kurze Auswahl von Zahlen und Namen soll den wirtschaftlichen Stellenwert illustrieren:

Für Berlin, das Zentrum der Luxuspapierfabrikation, liegen statistische Zahlen über die Betriebsgrössen für das Jahr 1898 vor. Insgesamt produzierten dort 150 Luxuspapier-Fabriken. Die Firma Hagelberg zählte 1’800 Arbeiterinnen und Arbeiter. Der grösste Teil waren Klein- und Mittelbetrieben mit weniger als 100 Beschäftigten. In der 1907 erhobenen allgemeinen Statistik lithographischer Betriebe wurden 2’810 Herstellerfirmen verzeichnet. Davon waren 2’112 Ein- bis Zehnmann-Betriebe, 569 Betriebe wiesen einen Beschäftigtenanteil von 11–100 Mitarbeitern aus, 49 Hersteller verfügten über 101–500 Arbeitskräfte und lediglich 3 Fabriken beschäftigten 501 bis über 1000 Personen (Pieske 1984, S. 42 ff.).

Weitere deutsche Zentren lagen in Nürnberg, Barmen und Aschaffenburg.  Zusammen mit Frank­reich und England machten diese Regionen den schwerpunkt der Luxuspapierindustrie in Europa aus. In den USA war die Mehrzahl der Firmen in New York ansässig (oftmals Zweigniederlassungen deutscher Unternehmen).

Der Verbreitung und Steigerung der Nachfrage diente, nebst den Verkaufskatalogen, auch die Präsenz und Präsentation auf den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zahlreich stattfindenden internationalen Messen, z.B. den Weltausstellungen in Wien  (1873), Chicago (1873), Philadelphia (1876), Brüssel (1878), Paris (1878), Melbourne (1880), Antwerpen (1885), Mailand (1895). Auf den Fachmessen blieb die Branche dann mehr oder weniger unter sich: Papiermesse  Berlin (1878), Papierausstellung Berlin (1880), Papierausstellung London (1881), Ausstellung des Mitteldeutschen Papiervereins Leipzig (1890) und L’Exposition du livre, die Internationale Ausstellung der Papierindustrie in Paris (1894).

1927 gab es allein in Deutschland über 6’300 Fabriken. Den Handel besorgten 1’680 Grosshändler und 6’540 Einzelhändler (Pieske 1984, S. 43 ff.). Wir haben es also mit einem gewaltigen Absatz- und Verbrauchermarkt zu tun.

Nachfolgend einige ausgewählte Firmen der florierenden Luxuspapierindustrie (alle nach: Allen 1985, S. 130 ff.):

Albrecht & Meister, gegr. 1869 in Berlin, mit Niederlassungen in London, Paris, New York (Export seit 1876). Bedeutender Oblaten-Hersteller, der zwischen 1877 und 1936 bis zu 400 Arbeiter beschäftigte.

Kunst- u. Prägeanstalt C. H. Berger in Wien, gegr. 1850. Fabrik für Papier- u. Gelatine-Oblaten. Wichtiger Oblatenfabrikant und  -exporteur. Sammlungen befinden sich in ‚Madame Tussaud’s, London‘.

Berlin-Neuroder Kunst-Anstalten AG, seit 1856. Weist um 1904 einen Beschäftigungsgrad von 1000 Mitarbeitern aus. Die Luxuspapierfabrik mit Niederlassungen in Wien, Braunau, Brandenburg und Dresden galt als einer der führenden Hersteller von Populärgraphik.

H. C. Bestehorn, Grossbetrieb für Papierverarbeitung in Aschersleben, gegr. 1861. Sehr wichtiges Unternehmen mit bis zu 1‘500 Mitarbeitern. Spezia­lisiert auf Reliefs, Kalender, Serienbilder, Glückwunschkarten u.v.m.

Kunstverlag Davidson Brothers, London, gegr. 1883. Bedeutender Oblatenhersteller und  -exporteur.

Luxuspapierfabrik Friedberg & Silberstein in Berlin, gegr. 1873. Grösseres Unternehmen mit Spezialisierung auf Reliefs und Serienbilder (in Millionenauflage).

Luxuspapierfabrik Wolf Hagelberg AG, Berlin, gegr. 1858. Wichtigster Oblatenfabrikant und Exporteur mit Niederlassungen in London und New York. Gilt als Initiator der Luxuspapierbranche. Zeitweise bis zu 1’800 Beschäftigte.

Luxuspapierfabrik Carl Hellriegel, Berlin, gegr. 1851. Grosser Oblatenhersteller und Exporteur (vor allem nach Russland). Preisträger auf der Wiener Weltausstellung 1873.

Luxuspapierfabrik Siegmund Hildesheimer & Co., London und Manchester, gegr. 1877. Grosse Oblatenfabrikation und Export.

Luxuspapierfabrik und Chromolithographische Kunstanstalt Meissner & Buch, Leipzig, gegr. 1861 (bis heute bestehend). Eines der bedeutendsten Unternehmen der Branche, genauso wie die Lithographische Kunst- und Prägeanstalt Adolf Sala in Berlin, gegr. 1845, ebenfalls noch bestehend.

Die früheste Luxuspapierfabrik war die 1818 gegründete Firma C. Schauer Nachf. in Berlin. Sie wurde an der Weltausstellung in Wien 1873 ausgezeichnet.

Die Chromolithographische Kunstanstalt Raphael Tuck & Sons, London, gegr. ca. 1866, war der wichtigste Oblatenhersteller Englands, mit 1’000 Mitarbeitern im Jahre 1881.

Wezel & Naumann, Verlagshandlung und Chromolithographische Kunstanstalt, Leipzig, gegr. 1872, gilt als bedeutendste Luxuspapierfabrik ausserhalb Berlins. Im Jahr 1927 arbeiteten dort noch ca. 1’500 Beschäftigte.

Produktionsverhältnisse

Im Gegensatz zu dem unmissverständlichen Eindruck von Idylle und Harmonie, den die oftmals Kitsch oder Sentimentalität ausstrahlenden Luxuspapiere bei der Betrachtung hervorrufen, waren die Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter häufig sehr schlecht, die hygienischen Bedingungen ungenügend.

Durch den vermehrten Maschineneinsatz wurden ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter in grosser Zahl verpflichtet, vor allem Frauen und Kinder. Die Heimarbeit stellte neben der Fabrikherstellung eine feste Grösse im Produktionsprozess dar.

Niedriger Lohn, keine Sozialleistungen, kein Schutz vor Unfällen und Schäden am Arbeitsplatz, Krankheiten, die durch lange Arbeitszeiten (Erschöpfung) und ungeschützten Umgang mit kritischen Materialien verursacht wurden, Unsauber­keit, schlechte Luft, schlechtes Licht, fehlender Atemschutz bei der Glimmerverwendung etc. werfen ein zwiespältiges Licht auf den Herstellungs­prozess. Begriffe wie ‚Ausbeutung und Unterdrückung, arbeiter­schaftliche Desorganisation‘ liegen nahe, wenngleich diese ideologisch befrachteten Ausdrücke den realen Gegebenheiten lediglich soziotheoretisch gerecht werden.

Der Anteil der 16-24-jährigen Beschäftigten lag bei 70%! Die Arbeitszeit betrug 8–12 Stunden. Hinzu kam, dass jüngere Arbeiterinnen nach der Fabrik­arbeit für die Heimarbeit mit ihrer meist sehr niedrigen Entlohnung oft noch Arbeit mit nach Hause nahmen, was bei Stücklohn-Produzierung, beispielsweise in der Konfektionierung von Knallkörpern, durchaus sinnvoll, da lohnbeeinflussend war. Bis tief in die Nacht, bis 2 oder 3 Uhr morgens wurde dann gefertigt, montiert, geklebt, verpackt, verstaut. Vom spärlichen ‚Verdienst‘ gingen noch Kosten für Beleuchtung, Leim und Kleister ab.

Eine besondere ‚Unsitte‘ war das sogenannte «Schwitzmeistersystem»: Eine Arbeiterin gibt Arbeit an andere Frauen ab, diese erhalten nur 50% des eh schon geringen Lohnes. Aber dürfen wir diese Form heute als ‚Unsitte‘ bezeichnen? War sie nicht vielmehr ein Ausdruck der wirtschaftlichen Not, der ungeregelten Arbeitsverhältnisse? (Pieske 1984, S. 56.)

Wir streifen hier nur kurz die Widersprüchlichkeit der Betrachtung und sinnlichen Wahrnehmung bei Luxuspapieren, die den sie herstellenden Personen sowohl als Produkt, wie auch in der Lebenswirklichkeit nahezu unerreichbar erscheinen mussten.

In der Fortsetzung dieses ersten Überblicksbeitrags wird auf solche und weitere Aspekte vertieft eingegangen werden.

Augenschmaus und zwiespältige Gefühle beim Betrachten von Luxuspapierprodukten liegen nahe beieinander. Die Freude am Betrachten und der Respekt vor der Leistung unzähliger fleissiger und kompetenter Hände sollten dabei im Vordergrund stehen. So überraschend überwältigend der Eindruck ist, den die Luxuspapiere hinterlassen, so getrübt erscheint dieser, wenn man die Produktionsbedingungen kennt. Da unter oftmals unwürdigen Arbeitsbedingungen ein idealisierendes und geradezu entrücktes Erzeugnis hergestellt wurde, war auch im hier gestreiften Industriezweig ein Nährboden für ideologisch-politische Konflikte vorhanden.

Wenn Auge und Hand aber auf dem zu betrach­tenden Luxuspapier ruhen, wird die Dimension des mit technisch hohem Können verbundenen Objekts eindringlich, im wahrsten Sinne des Wortes eindrücklich, und darf des Staunens und der Bewunderung nicht entbehren.

Literatur

Allen, Alistair; Hoverstadt, Joan (1985): Glanzbilder und Oblaten. München: Hugendubel, 1985.

Ciolina, Erhard u. Evamaria (ca. 1987): Garantiert aecht: das Reklame-Sammelbild als Spiegel der Zeit. München: Ed. Wissen u. Literatur, (ca. 1987). (Reihe Deutsche Reklame.)

Dohmen, Walter (1982): Die Lithographie: Geschichte, Kunst, Technik. Köln: DuMont, 1982. (DuMont Taschenbücher; 124.)

Gottschalk, Elke (1996): Papierantiquitäten: Luxuspapiere von 1820 bis 1920. Augsburg: Battenberg, 1996. (Battenberg Antiquitäten-Katalog.)

Kälin, Detta (2010): Süsse Lämmchen und flammende Herzen: Die «fromme Industrie» um 1900 in Einsiedeln: Zeugnisse des Zeitgeschmacks. [Ausstellung Museum Fram 26. Juni 2010 bis 6. Jan. 2011.] Einsiedeln: Kälin, [2010].

Metken, Sigrid (1978): Geschnittenes Papier: Eine Geschichte des Ausschneidens in Europa von 1500 bis heute. München: Callwey, 1978.

Papierzeit (1997). [Ausstellungskatalog. Text: Johannes Georg Oligmüller]. Essen: Klartext, 1997. (Schriften des Rheinischen Industriemuseums; Bd. 14.)

Pieske, Christa et al. (1984): Das ABC des Luxuspapiers: Herstellung, Verarbeitung u. Gebrauch 1860 bis 1930. Berlin: Reimer, 1984.

Twyman, Michael (2001): Breaking the Mould: The First Hundred Years of Lithography. London: The British Library, 2001. (The Panizzi Lectures 2000.)