Gera, die Höhler und die Höhler Biennale

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sph-Kontakte Nr. 95 | August 2012

Kurzvortrag, gehalten von Hanspeter Leibold bei der Jahrestagung der Schweizer Papierhistoriker am 24./25. September 2011 in St. Gallen, im Hotel Dom.

Die Stadt Gera, einstige Haupt- und Residenzstadt des Fürstentums Reuss, hat heute 103‘000 Einwohner und ist die drittgrösste Stadt im neuen deutschen Bundesland Thüringen. Sie zählte bis zum 2. Weltkrieg zu den reichsten Städten in Deutschland. Gera entwickelte sich innert weniger Jahre an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zum bestimmenden Zentrum der nordeuropäischen Stoff- und Tuchindustrie. Dieser Reichtum endete mit dem Zweiten Weltkrieg. In der nachfolgenden DDR-Zeit wurde die nach russischem Vorbild eingeführte Planwirtschaft zum Entwicklungs-Desaster der Industrie. Geblieben sind der Stadt hunderte von Bürgerhäusern und ca. 100 repräsentative Stadtvillen, in denen sich der einstige Wohlstand der Industriemagnaten, aber auch der sehr hohe Anspruch dieser Bauherren in Baustil, Bauweise und Bauästhetik ihrer Zeit wiederspiegeln.  Erwähnen möchte ich z. B. die Villen des Architekten Henry van de Velde.

In Gera ist Otto Dix vor 120 Jahren geboren. Viele seiner Werke sind unter anderem auch im Otto Dix Museum, seinem Geburtshaus in Gera zu sehen. Die Stadt ehrt ihren Sohn, ihren grossen Künstler mit ihrer Zusatzbezeich-nung  „Otto Dix Stadt“.

Was sind Höhler?

Vom 16. Bis zum 19. Jahrhundert wurden in Gera durch Bergleute über 230 tiefliegende Wirtschaftskeller, ein Labyrinth von Gängen mit Rundbögen und verwunschenen Nischen, Feuchtigkeit, niedrige Decken, enge Räume– die heutigen Höhler – angelegt, um dort Bier zu lagern.

Entsprechend des Geraer Brauprivilegs durchzogen die an die Bürgerhäuser angebundenen Höhler ohne Beachtung der Grundstücksgrenzen die gesamte Altstadt, mit einer Länge von insgesamt über 9 km.  Stockwerkeigentum, ein Begriff unserer Zeit, war in Gera schon vor Jahrhunderten aktuell.

Manche Höhler sind so klein und eng, dass höchstwahrscheinlich nie Bier darin gelagert wurde. Die damalige Gesetzmässigkeit, die Braugerechtigkeit, verlangte jedoch zur Berechtigung des Bierbrauens die Existenz eines Höhlers. Bier war damals ein alltägliches Getränk, das sich die Leute selbst brauten. Neben Brot war es das wichtigste Nahrungsmittel, war Bestandteil der Morgen- und Abendsuppe, aber auch meist Grundlage des Mittagessens. Als Tischtrunk wurde leichtes Bier gereicht und gab es nur stärkeres Lagerbier, so wurde dieses verdünnt. Gebraut wurde vom Herbst bis 30. April. Im Jahre 1853 gab es 6 private Brauhäuser, 1 kommunales Brauhaus und 221 brauberechtigte Privathäuser.

Höhler Biennale

In  der Abgeschiedenheit, jenseits von Kaufrausch und grossstädtischem Treiben, installieren regionale, nationale und internationale Künstler in den förmlich steinernen „Passepartouts“, den Höhlern,  ihre Kunst und Installation. Eine Jury wählte aus 236 Bewerbungen 54 Künstler aus, deren Werke sich eigens auf die Beschaffenheit des Ortes einstellen. Der Ort definiert ein Werk und die Inszenierung einer Arbeit wird wieder als genuin künstlerische Aufgabe gesehen. Höhlen sind besondere Orte, die zu allen Zeiten, wie die prähistorische Höhlenmalerei erweist, zur Begegnung mit dem Anderen einluden. Die künstlerischen Installationen spielen mit Schall und Klang, mit spiegelnden Prismen, plastischen Strukturen, mit „Orpheus und Eurydike“ verschiedene Ichs, ermahnen Zeitempfinden und sprechen alle Sinne und die Gefühle des Betrachters an. Der Besucher wird Teil der Kunstwerke. Die Biennale, welche sensibel auf die Ereignisse der Zeit reagiert, lädt den Besucher ein, sich mit allen Sinnen gefangen nehmen zu lassen und im Labyrinth des Höhlersystems zu verweilen, um das eigene Bewusstsein für Gegenwärtiges zu schärfen. Eigene Empfindungen, das Bewegen durch diese unverwechselbaren Räume, lassen in jedem ein individuelles Erlebnis entstehen.

Mein Beitrag zur Höhler Biennale

Das vorgegebene Thema der diesjährigen Biennale lautete „Unterwelt“. Die Unterwelt ist ein Ort, der ausserhalb der zugänglichen Welt angesiedelt ist, ausserhalb der Welt der Lebenden, in den elysischen Gefilden, der Welt der Ahnungen, in denen die Geister der Verstorbenen vermutet werden.

Mit meiner Installation möchte ich Spuren und Zeichen zusammenbringen, die sonst unverbunden nebeneinander stehen: das sichtbar gemachte Vorher, das Diesseits, und das zu erahnende Nachher, das Jenseits. In der Unterwelt, der mystischen Stätte, der Tiefe, verliert sich allmählich das irdisch Vergängliche, Weltliche, löst sich auf und wird zum ewig Geistigen, Spirituellen. Ich versuche, die Verbindung zwischen dem was greifbar, wahrnehmbar und vorstellbar ist und dem Unverständlichen, Unfassbaren und Unerklärlichen herzustellen. Dazu wähle ich Abbilder des Menschen, Körperfragmente, hergestellt im Werkstoff Papier.

Bis anhin war Papier meist nur Bildträger. In der Paper Art wird das Papier dem gewöhnlichen Zweck und Nutzen entzogen und als autonomes Sprachmittel in seiner Stofflichkeit und Materialität thematisiert. Papier wird als Werkstoff autark. Nicht das vorgefertigte Blatt sondern der ungeformte Grundstoff wird Ausgangsbasis für gestalterische Prozesse. Papier wird Original und hat seine ursprüngliche, eigene und eigentümliche Würde wiedergewonnen.  Ich arbeite hauptsächlich mit der optischen, haptischen Bildlichkeit des Papiers. Pulpe wird geschöpft, gegossen, geformt, modelliert, Faser für Faser und wird zur Dreidimensionalität. Details bleiben vage, alles konzentriert sich auf die Körpersprache, auf Linien, Flächen und Formen, auf die Gesten der unverkrampften gelösten Bewegung  und auf die erotische Ausstrahlung der Fragmente.

Im Zeitalter von Internet und Billigpapier wird Papier zur Poesie.

Papier gleicht der lebendigen, menschlichen Haut von vielschichtiger Natürlichkeit. Seine volle Schönheit, seinen Charme entfaltet es, wenn man den Fasern ihre originale Farbe belässt; sie ist wie ganz heller Sand, wie ganz helle Haut! Seine einzigartige Struktur gibt es preis, wenn man ein Blatt gegen das Licht hält: Tausend und abertausend Fasern greifen fest ineinander und bilden ein dichtes Netz, das wie ein Gewebe erscheint, wie Fleisch, eng aneinander liegend und fibrilliert. Papier zeigt in seiner Art vielfältige Erscheinungsformen; es kann grob  und fest  sein und seine Fasern direkt zur Schau stellen; es kann narbig und rauh sein wie altes Leder oder glatt, steif und fest wie Satin; es kann stumpf, schwer und undurchsichtig sein oder hauchdünn, filigran, zerbrechlich, feinfühlig, durchscheinend, anmutig, grazil, feingliedrig, verletzlich, elfenbeinartig, abstrahlend, porzellanhaft, empfindsam und zart  und  anschmiegsam  –  wie menschliche Haut.

Die Körperfragmente der Installation „Unterwelt“, meinem Beitrag für die diesjährige Höhler Biennale in Gera, enthüllen die Schönheit des Körpers, dessen beschauliche Gestalt, lassen die Zeitlichkeit und Wandelbarkeit der Form erahnen und damit auch die Endlichkeit im  Gesamten. Sie sind in zugänglicher Tiefe, Im Höhler D, Greizer Strasse 10, in der Unterwelt, einem historischen Ort der Erinnerung und Transformation platziert. Sie sind dem gewöhnlichen Alltag enthoben und doch, im wahrsten Sinne des Wortes, unter uns.

Die totenblassen, weissen, papiernen Aktfragmente, mit allen belastenden Defiziten, sind bruchstückhafte Überreste des Diesseits. Es sind leere, seelenverlassene, vergeistigte, menschliche Hüllen, mit hellen Scheinen und dunklen Schatten. Sie ruhen in den lichtlosen, kahlen Katakomben des Jenseits, der Demimonde, der Unterwelt. Das Weiss, als Höhepunkt des Lichtes summiert alle Farben in sich, als Triumpf über das Dunkel. Es ist Energie und Stille. Der Zustand „weiss“ kann als Gebet verstanden werden, in seiner Artikulation ein spirituelles Erlebnis sein (Günther Uecker).

Dabei möchte ich das genaue Hinsehen bewirken, das Innehalten, vielleicht den Einblick  auf eine grazile, detailhafte Schönheit, vielleicht  das Erschrecken über den Zerfall, den unaufhaltsamen Prozess der Veränderung und schlussendlich der unausweichbaren Vergänglichkeit. Es gilt die Verbindung zwischen dem Greifbaren, Wahrnehmbaren, Vorstellbaren und dem Unerklärlichen, Unbekannten herzustellen. Alles im Beziehungsfeld von Körper und Geist:

Wer sind wir?
Was sind wir?
Wo kommen wir her?
Wozu sind wir da?
Wohin führt unser Weg?
Was ist unser Ziel?

Die beigelegten Geistergelder sind  kultische Währungen des Diesseits für das Jenseits. Sie  sind eine Opfergabe beim Übergang ins Reich der Toten an die in der Unterwelt lebenden Gottheiten, um diese versöhnlich zu stimmen. Die Geistergelder mit Teilvergoldungen, sind aus handgeschöpftem, weissem Büttenpapier. Der Druck des Geldes erfolgt mit eigens dazu hergestellten, fluoreszierenden weissen Druckfarben durch einen speziell dazu gefertigten Holzschnitt im Hochdruckverfahren. Die kleinen handgeschöpften Papierblättchen strahlen und glänzen kalt zwischen den  papierenen, weissen  Aktfragmenten durch die spezielle Schwarzlicht-beleuchtung.  Sie sind ein kleiner Lichtblick, ein spärlicher Hoffnungsstrahl in der Unterwelt als Reflektion des ewigen Lichtes.

Unter den Aktfragmenten liegen Schuhe aus Papier, High-Heels. Ausgezogene Schuhe versinnbildlichen, dass man angekommen ist, nicht mehr weiter gehen will oder kann. Der irdische Weg ist zu Ende. Das erlösende Ziel ist erreicht. Barfuss kommt man zur Welt; barfuss verlässt man sie wieder in die geistige, raumlose Unterwelt!

Die Arbeit soll aber nicht nur offenbaren sondern auch anregen und inspirieren.

Die Installation, emotionales Papier als Erdichtung, soll bei den Betrachtern ein berührendes, nüchternes Besinnen und ein kühles, erotisches Empfinden erzeugen.

Ich lade Sie nun gerne ein, sehr geehrte Damen und Herren, den Reizen und dem mystischen Zauber meiner Installation  zu begegnen und die Aussage und die Poesie meiner Arbeit in der nachfolgenden Power-Point- Animation sinnlich auf sich einwirken zu lassen

Kunstwerkstätten Hanspeter Leibold
Offizin zum Rothen Thurm
Steinort Papyr Mühl
Im Steinort 22
FL 9497 Triesenberg
Fürstentum Liechtenstein
Tel.: 00423 / 262 56 75
Mail: hanspeter.leibold@adon.li
http://hanspeterleibold.magix.ne