Heinrich von Kleist – Ein Schweizer Landmann und ein Berner Papier

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von Nana Badenberg

sph-Kontakte Nr. 94 | Februar 2012

Im Oktober 1801 vertraute Heinrich von Kleist seiner Korrespondenz den zumindest epistolarisch gehegten Wunsch an: «Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein Landmann.» Denn, so Kleist weiter, ein «jeder hat seine eigene Art, glücklich zu sein»; bei ihm besteht diese zu jener Zeit in der französischen Hauptstadt aus der dort recht exotisch anmutenden Vorstellung, sich «etwa in der Schweiz einen Bauernhof zu kaufen.» Der vielzitierte Brief aus Paris, den Kleist seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge sandte, trägt als treffliche filigrane Botschaft ein Herz nebst den Initialen H L, am Blattrand ist zudem der obere Teil einer Muschel erkennbar. Zweifellos ein französisches Papier, das mit seinem Wasserzeichen das Sehnsuchtsvolle der Botschaft grundiert.

Es dauerte noch zwei Monate, bis Kleist aufbrach, um ein Schweizer Landmann zu werden. Zum Jahresende 1801 kommt er nach Basel, betritt «das neue Vaterland» in «finstre[r] Nacht»; am 23.12. macht er in Liestal Station und wenig später befindet er sich in Bern, wie wiederum dem Briefwechsel zu entnehmen ist. Der nächste erhaltene Brief Kleists, den er am 12. Januar 1802 in Bern an seine Schwester Ulrike schrieb, berichtet einlässlicher von dem neuen projektierten Leben und negiert doch sofort alles, was nur irgend dem entspricht, was von ihm erwartet werden könnte. Dabei sei er «so verliebt in den Gedanken, ein Feld zu bebauen, dass es wohl geschehen müsse». Was Kleist dazu in erster Linie unternimmt, so vermeldet der nämliche Brief, ist, «fleißig die Landleute» zu befragen und, mehr noch, «landwirthschaftliche Lehrbücher» zu lesen. Hinzu kommt die Suche nach dem geeigneten Gut. Statt eines solchen, auch finanziell prekären Erwerbs mietet Kleist schliesslich, wie er im März 1802 seinem Freund Heinrich Zschokke berichtet, «eine Insel in der Aare […] mit einem wohleingerichteten Häuschen» – nicht ohne in diesem Zusammenhang darüber zu klagen, dass ihm aufgrund der politischen Wirren drohe, «statt eines Schweizerbürgers durch eines Taschenspielerskunstgriff ein Franzose zu werden.» Es mag just diese politische Gemengelage gewesen sein, die Kleist in der Schweiz – Thun war aufgrund der Verfassung der Helvetischen Republik ja als Hauptort des Kantons Oberland durchaus prominent – vom imaginierten Landmann zum dichtenden Compatrioten werden liess.

Abb. 1: Wasserzeichen SE Gruner mit Monogramm als Kontermarke, rechte Siebhälfte eines Formenpaares. Eine von zwei Papiersorten, die Heinrich von Kleist in seinem Manuskript der Familie Ghonorez verwendete (Staatsbibliothek Berlin).

Bereits die Ankündigung an die Verlobte kann hier programmatisch gelesen werden – im eigentlichsten Verstande Bauer werden: Kleists rousseauistisches Projekt auf der Thuner Aareinsel, deren oberer Teil zur Feier des 200. Todestags des Dichters seit diesem Jahr auch offiziell «Kleist-Inseli» heisst, ist in erster Linie ein intellektuelles, eine, wenn man so will, papierne Passion. Die imaginierte Inselwirtschaft blieb Vision, eines der vielen Reise- und Fluchtziele, von denen Kleists Briefe in ihrem unsteten Diskurs berichten. Der tatsächliche Aufenthalt in der Schweiz bereitete dann vielmehr dem Dichter Kleist den Boden. Auf seinem Thuner Insel-idyll verfasste er sein erstes Stück Die Familie Schroffenstein, das bereits Ende 1802 in gedruckter Form vorlag (bei Heinrich Gessner in Bern und mit dem Erscheinungsjahr 1803 publiziert).

Dass die einzig erhaltene, unter der Bezeichnung «Die Familie Ghonorez» bekannte Handschrift der Familie Schroffenstein tatsächlich während Kleists Aufenthalt in Thun entstanden ist, beweist nicht zuletzt die Wasserzeichenanalyse. Wie Roland Reuß und Peter Staengle in ihrer gründlichen und grundlegenden Edition des Stücks sorgfältig nachgezeichnet haben, weist das zu einem Buch gebundene Manuskript (mit Ausnahme des Vorsatzblatts) lediglich zwei Sorten Papier auf, die beide aus den Berner Papiermühlen Samuel Emanuel Gruners stammen. Die Mühle wurde zur Zeit von Kleists Schweizer Aufenthalt von der Witwe des jung verstorbenen Gruner geführt (sie sollte ein halbes Jahrzehnt später einen Sohn Albrecht von Hallers heiraten). Das eine Wasserzeichen zeigt den kursiven Schriftzug S E Gruner, als Kontermarke das Gruner’sche Monogramm (ähnlich Lindt 587); das andere, einem Siebpaar entstammende Wasserzeichen (vgl. Abbildung 1), den nämlichen Schriftzug SEG in doppelt konturierten Versalien, das anschliessende runer in Kapitälchen (ähnlich Lindt 588). Auch hier findet sich als Beizeichen das verschlungene Gruner’sche Monogramm.

Die in Bern und Thun verfassten Briefe Kleists sind ebenfalls allesamt auf Schweizer Papier geschrieben. Es sind – zumindest darin erweist sich Kleist als bodenständig, als ein guter Landsmann und Patriot – Papiere aus den am Lauf der Worble gelegenen Mühlen Gruners (Abbildung 2), die seinerzeit trotz der Schäden in Höhe von ca. 1600 Kronen, die sie durch die französische Besatzung erlitten haben sollen, wohl angesehen und fast konkurrenzlos waren. Für die 1810er Jahre berichtet Johann Lindt, dass der inzwischen volljährige Emanuel Gruner, der das Geschäft 1803 übernommen hatte, «alle Dienstage einen zweispännigen Wagen mit Handpapier in die Stadt» Bern lieferte, weithin sichtbar zu erkennen an den schwarzen Pferdedecken mit den leuchtend gelben Initialen E. G. Lager für die Papiere war der Leuenberger’sche Laden in der heutigen Kramgasse.

Abb. 2: Gasthof bei der Papiermühle Worblaufen, rechts ein Lumpenschopf (Photo aus: August Gruner, Chronica über die Ortschaft Worblaufen bei Bern. 1863)

In sieben der erhaltenen Schweizer Briefe Kleists finden sich Gruner’sche Wasserzeichen, und nur in dem letzten in der Schweiz verfassten Brief Kleists, den er im August 1802 krank in Bern liegend an Wilhelm von Pannwitz richtete – er bittet darin recht salopp Gott um den Tod und den Adressaten um Geld –, verwendet Kleist Papier, das aus der Papiermühle Jean Baptiste Guerdats im jurassischen Bassecourt stammen dürfte. Ob das Papier aus Bassecourt seinem Zustand Rechnung trägt und tatsächlich schwächlicher und billiger ist als das im Berner Raum renommierte Gruner’sche sei dahingestellt.

Die Mühle in Bassecourt, an der zeitweilig Papierer aus Basler Familien beteiligt waren, lässt sich immerhin bis in die Zeit des 30-jährigen Krieges zurückführen; als die Mühle 1761 zum Verkauf stand, verfügte sie über vier Räder und zwei Holländer, ausreichend Wasser, Feuerholz sowie das Lumpensammelrecht für das ganze Bistum. 1771 ging die Mühle in den Besitz des Bürgermeisters Jean Baptiste Guerdat über und war unter seiner Ägide eine durchaus prosperierende, dreistöckige Fabrikanlage. 1787 übernahm sie der Sohn, Jean Baptiste Guerdat Jr., und lieferte seine durchaus als hochwertig geltenden Papiere nicht nur nach Porrentruy, sondern bis Basel und Frankfurt. Die in dem Kleistbrief durchscheinende Kontermarke, die Vierermarke mit den doppelkonturigen Initialen IBG, findet sich in verschiedenen Papiersorten Guerdats, vor allem bei Papieren mit dem Baselstab. Das auf dem Kleist’schen Briefbogen zu erkennende, leider abgeschnittene Beizeichen ähnelt jenem, das Lindt ab 1785 nachweist (Abbildung 3).

Die Guerdat’schen Initialen finden sich als Kontermarke aber auch bei dem Vryheit-Löwen (Lindt 786), den Guerdat bereits in den 1780er Jahren führte. 1790 folgte ein klassisches Pro-Patria-Papier (Lindt 787) und 1794 eines mit den Insignien der Revolution. Auch Gruner versah seine Berner Bären ja während der Helvetik dem Zeitgeist entsprechend mit einem auf der Stange getragenen Freiheitshut (vgl. Lindt 70–74). Wie die Guerdat’sche Mühle in Bassecourt die Revolutionswirren überstand, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen; für 1795 ist zumindest ein gewisser Georges Keller nachgewiesen, der allerdings eher in Delémont und als Verwalter tätig gewesen sein soll. Dass Siebe mit der Guerdat’schen Kontermarke und den Initialen IBG noch um 1800 und unter Umständen von einem neuen Papiermüller verwendet wurden, ist zumindest denkbar; ebenso dass das die Papiere Guerdats noch über längere Zeit im Handel waren.

Was nun wieder das von Kleist verwendete Papier betrifft, so ist auffällig, dass der Briefeschreiber und Dichter in der Schweiz ausschliesslich heimisches Papier verwendet hat, das wegen seiner gemeinhin hohen Qualität freilich mit den sonst von Kleist bevorzugten klassisch holländischen Papieren durchaus mithalten konnte. Für seine in deutschen Landen verfassten Briefe verwendete Kleist denn auch gerne Postpapier mit dem entsprechenden Wasserzeichen der Hersteller Blauw, Honig, Jan Kool, Adrian Rogge und van der Ley; diese renommierten niederländischen Papiermacher wurden freilich auch oft genug von lokalen Produzenten imitiert. In Paris scheint Kleist wiederum auf die im Land produzierten Papiersorten zurückgegriffen zu haben; die in den Briefen wiederholt auftauchenden Herz-Wasserzeichen sprechen dafür. Ähnliches gilt für eine weitere literarische Niederschrift: Der Zerbrochne Krug wurde auf ostpreussischem Papier mit Adlerwasserzeichen notiert (Ober Ecker) – auch hier ein Indiz für die raumzeitliche Verortung der Niederschrift. Die Manuskripte von Penthesilea und Prinz von Homburg hingegen tragen das Posthorn der niederländischen Papiermacher C & I Honig respektive van der Ley.

Abb. 3: Kontermarke zum Stabpapier von Jean Baptiste Guerdat, Bassecourt, 1785ff. (= Lindt Nr. 777)

Weit weniger zu verorten freilich ist Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike. Kein heimisches Zeichen mehr ermöglicht eine Zuordnung zum Aufenthaltsort des Schreibenden. Das freie Denken habe ihn, so hatte Kleist schon in dem eingangs zitierten Brief aus Paris vom 10.10.1801 geschrieben, «dem, was die Menschen Welt nennen, sehr unähnlich gemacht.» Trotz dieser von Kleist selbst konstatierten Fremdheit notierte er viele seiner Schriften auf Papier mit dem Posthorn-Wasserzeichen, so dass man der dahinterstehenden filigranen Botschaft Glauben schenken mag: Dem Schriftsteller Heinrich von Kleist ging es in ganz besonderer Weise um die Frage und die Möglichkeiten der Kommunikation. Oftmals freilich auch der misslingenden. In seinem am 21. November 1811 in dem am Kleinen Wannsee gelegenen Gasthof Stimmings Krug verfassten Abschiedsbrief an die Schwester, wendete Kleist die distanzierende Formulierung des weltentfremdeten Denkers ins Negative. Auf Papier, das bezeichnender Weise kein Wasserzeichen mehr barg, notierte Kleist «am Morgen meines Todes» eine Botschaft, die seine Schwester erst aus jener anderen Welt erreichte: «Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.»