Von der Wurzel zum Buch – Klosterdruckerei in Dege (China, Provinz Sichuan)

Artikel als PDF herunterladen

von Dieter Pothmann*

sph-Kontakte Nr. 93 | Juli 2011

Im Mai 2004 nahmen meine Frau Ine und ich an einer Reise teil, die unter anderem in die Provinzen Yunnan und Sichuan führte, und die von den US-amerikanischen Papierhistorikern Elaine und Sidney Koretzky organisiert worden war.

Die genannten Provinzen werden im Westen von Tibet begrenzt; die tibetische Bevölkerung und die tibetische Kultur reichen jedoch weit in diese Provinzen hinein. Im tibetisch geprägten Teil Sichuans befand sich die letzte Station dieser Reise: Dege und die dortige Klosterdruckerei.

Dege liegt an der nördlichen Autostraße, die von Sichuans Provinzhauptstadt Chengdu nach Lasha führt, unmittelbar vor der Grenze nach Tibet, im Tal des noch jungen Yangzi, etwa 3’000 m hoch, umgeben von den Bergen des Himalaja. Schon die dreitägige Busfahrt (mit zwei Zwischenübernachtungen) von Chengdu nach Dege war ein Erlebnis. Die abenteuerliche Fahrt vom 5050 m hohen Chola-Pass hinab in das Yanzi-Tal nach Dege ist den Reiseteilnehmern  eine bleibende Erinnerung.

In Dege blieben wir zwei Tage mit drei Übernachtungen; unser Ziel war die etwa 250 Jahre alte Klosterdruckerei. Sie gilt als eine der kulturell wichtigsten Stätten der tibetischen Kultur. In ihr werden Papier und Bücher heute noch genau so gemacht wie in der Mitte des 17. Jahrhunderts, ohne Einsatz von Maschinen, nur mit menschlicher Kraft und Handarbeit. Es ist anzunehmen, dass diese Arbeitsweise schon damals auf eine sehr alte Tradition zurückblicken konnte. So wird das Papierblatt auf dem Schwimmenden Sieb gebildet – eine Technik, die sicher schon zwei Jahrtausende zuvor in ganz Südost­asien ausgebildet war und im Himalaja – zum Beispiel in Nepal – noch heute anzutreffen ist.

Was die Klosterdruckerei so wertvoll macht, ist, dass in ihren Archiven die Bücher und auch die Druckstöcke aus den gesamten 250 Jahren ihres Bestehens lagern. Sie stellt somit eine der wertvollsten Quellen für das Studium der tibetischen Kultur dar; man spricht davon, dass sich dort 70 bis 80 % des historischen Literatur­bestandes der Tibeter befinden. Unser Interesse galt der alten Arbeitsweise des Papiermachens und des Druckens.

Die Druckerei hat die Kulturrevolution überlebt, da Zhou Enlai die Roten Garden Maos an ihrer Zerstörung hinderte.

Besuchsbericht

Ich komme nun zu unserem eigentlichen Besuchsbericht. Zunächst haben wir uns in Dege etwas umgesehen. Wir sahen die Gläubigen, wie sie einen Tempel im Uhrzeigersinn umrundeten und dabei ihre Gebetsmühlen oder ihre Rosenkränze drehten. Wir konnten das Dach der Druckerei begehen und die Umgebung betrachten.

In einem Gebäude auf der anderen Straßenseite erblickten wir einen Holz-Schnitzer, der die Druckstöcke anfertigte. Schließlich betraten wir den Hof der Druckerei und sahen dort einem Mann zu, der gebrauchte Druckstöcke wusch.

Im Druckerei-Haus sahen wir dann die uralte Methode, mit der Hand von den geschnitzten Druckstöcken zu drucken. Jeweils zwei Personen bildeten ein Druck-Team, und es gab eine ganze Reihe solcher Teams.

Die beiden Personen eines Teams saßen sich gegenüber und hatten einen Druckstock auf ihren Knien. Sie arbeiteten im Takt:

  • Auftragen der Druckfarbe mit einer Rolle auf den Druckstock
  • Auflegen des Papierbogens auf den Druckstock
  • Andrücken des Papiers auf den Druckstock mit einer Andruckrolle
  • Aufnehmen des bedruckten Bogens

Diese vier Takte benötigen eine Zeit von vier Sekunden.  Wie uns gesagt wurde, leistet ein Team 4500 doppelseitig bedruckte Bogen je Tag. Setzt man beide Angaben miteinander in Beziehung, ergibt sich eine Druckzeit von 10 Stunden je Tag.

Wir sahen den Druckern zu und gingen dann durch die Druckstock-Archive.

Am Nachmittag fuhren wir mit unserem Bus an der Klosterdruckerei vorbei eine kurze Strecke weiter zum eigentlichen Kloster. Es befand sich in der Renovierung, und das Hämmern und Sägen erfüllte unsere Ohren. Meiner Ine und mir gelang es dank der Hilfe eines jungen Mönches, die noch intakten Nebenräume zu besuchen. So kamen wir in das Archiv der Bücher.

Der junge Mönch öffnete ein Buch. Ein solches Buch ist nicht gebunden, sondern die einzelnen Blätter befinden sich lose zwischen zwei Holzdeckeln, und das Ganze wird durch einen Riemen zusammengehalten. An der im Regal sichtbaren Schmalseite hängt ein vergoldeter Lappen, der die Kanten der Blätter gegen Lichteinfluss schützt. Die anderen Kanten sind nicht geschützt; sie schützen sich im Regal gegenseitig.

Am nächsten Tag fuhren wir zum Platz gegenüber der Klosterdruckerei, um zu sehen, wie dort das Papier hergestellt wird.

Vieles deutet darauf hin, dass dort nicht mehr täglich Papier gemacht wird. Wie wir hörten, druckt man inzwischen auf Maschinenpapier, und es scheint, dass die Papierherstellung nur noch eingeschränkt vorgenommen wird, z.B. für das Drucken von Graphiken etc. oder zu Demonstrationszwecken.

Als Rohstoff dient die Wurzel der Stellera chamaejasme, einer Daphne-Art. Sie wird zunächst eingeweicht und mit einem Rundhammer geschlagen, damit man Holz und Rinde voneinander trennen kann. Sodann wird mit Messern der Bast von der Rinde abgezogen. Der Bast wird dann mit Soda-Asche gekocht. Danach werden die Fasern mit zwei schweren Handhämmern bearbeitet, bis der Faserstoff genügend fein zur Blattbildung ist. Zur Beurteilung des Faserstoffes wird eine kleine Probe in ein Glas mit Wasser gegeben; man beobachtet, wie sich die Probe verhält.

Die Blattbildung erfolgt auf einem in einer gemauerten Bütte schwimmenden Sieb.  Die Bütte ist zwar tief, aber in Breite und Länge kaum größer als das Sieb. Damit das Sieb während des Faserverteilens stabil liegen bleibt, wird es in eine Ecke der Bütte gedrückt und dort fest gehalten.

Der Faserstoff wird in einem Holzeimer suspendiert, bevor er auf das Sieb gegossen wird. Dann werden die Fasern mit den Händen auf dem Sieb verteilt. Schließlich hebt man das Sieb vorsichtig aus dem Wasser heraus, und stellt das Sieb zum Trocknen in die Sonne; zunächst mit der Papierseite der Sonne zugewandt. Schon nach wenigen Minuten dreht man das Sieb herum, sodass die Siebseite von der Sonne beschienen wird.

Die Bütte steht im Freien auf dem Platz vor der Werkstatt. In einer Platzecke verteilt ein Ofen Weihrauchgeruch, und auf der gegenüber liegenden Straßenseite umkreisen die Gläubigen unermüdlich den Tempel.

Wir sahen den ganzen Vorgang, die einzelnen Arbeitsschritte nacheinander, wie oben beschrieben. Beginn: 10 Uhr; Ende: 16 Uhr. Dazwischen gab es natürlich Pausen, denn z.B. während des Kochens war ja nichts zu sehen.

Leider sahen wir das Ablösen des Papiers von den Sieben nicht mehr, da dies erst am nächsten Tag, am Tag unserer Abreise, vorgenommen wurde.

Unser Rückweg nach Chengdu war derselbe wie der Hinweg. Wieder ging es über den hohen Chola-Pass, und wir hatten das Glück, die Papierblume, die Stellera chamaejasme, deren Wurzelbast zum Papiermachen verwendet wird, am Wegesrand wachsen und blühen zu sehen.

Müde, aber voll der schönen Erlebnisse, kamen wir nach dreitägiger Busfahrt wieder in Chengdu an.

Ein Weihrauchofen im Kloster von Dege

Ein Druckstock wird geschnitzt

Das Drucken im «Viertakter»

Magazinierte Bücher

Ein Buch wird geöffnet

Das geöffnete Buch

Die Stoffaufbereitung in der Papiermacherwerkstatt

Das «Schwimmende Sieb»

Die Papierblume «Stellera chamaejasme»

* Diesen Vortrag hielt Dieter Pothmann anlässlich der ge­meinsamen Tagung des Deutschen Arbeitskreises für Papier­geschichte DAP und der Schweizer Papierhistoriker SPH in Schloss Beuggen, vom 30. September bis 3. Oktober 2010.