Mumienpapier – Bloss eine schauerliche Anekdote oder nackte Tatsache?

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von Martin Kluge

sph-Kontakte Nr. 92 | Dezember 2010

Darstellung ägyptischer Mumien in Michael Valentini: Museum Museorum, Frankfurt 1704.

Sie ist eine der beliebtesten Gruselgeschichten der Papiergeschichte und verweist auf die verzweifelte Suche nach Rohstoffen für die Papierherstellung in den Jahren vor der Praxisreife des Holzschliffs: Papier, gewonnen aus den Bandagen altägyptischer Mumien. Unter dem Titel „Das Geheimnis der Pulpe. Vor 600 Jahren begann in Deutschland die Papierherstellung – der Rohstoff war begehrt wie Drogen.“ kann man die Kurzfassung in den journalistischen Worten von Spiegel online nachlesen: … Mit begehrlichen Blicken hatten die Mühlenbetreiber bis dahin nach so gut wie jeder Rohstoffquelle geschielt. Während des amerikanischen Bürgerkriegs fand ein Papiermacher einen bis dahin unbekannten Ausweg aus der Lumpenkrise. Er ließ mehrere Schiffsladungen mit Mumien aus Ägypten kommen und verarbeitete die Leinenumhüllungen und Papyrusreste zu Packpapier für Lebensmittel. Der Frevel hatte ein medizinisches Nachspiel: Mit den nicht desinfizierten Lumpenbündeln aus den ägyptischen Gräbern hatte der Unternehmer auch eine Cholera-Epidemie ins Land geschleppt.“

Diese Geschichte, die in Europa zum Standardrepertoire bei Führungen in Papiermuseen gehört und gerne bei Betriebsbesichtigungen der Papierindustrie eingestreut wird, bei uns aber sonst kaum Beachtung findet, hat in Amerika in den letzten Jahren eine heftig geführte Kontroverse ausgelöst. Das mag zum einen daran liegen, dass sich die Geschichte explizit um Amerika dreht. Man darf aber auch nicht vergessen, dass schon damals, in den 1850er Jahren, Amerika soviel Papier produzierte, wie England und Frankreich zusammen; dort zeichnete sich die Krise also umso schärfer ab.

Gibt es trotz aller Diskussionen, Anfeindungen und Zweifel dieses Mumienpapier wirklich? Oder handelt es sich lediglich um urban legends – also um moderne Schauergeschichten? Zeit wieder einmal, die Karten auf den Tisch zu legen und auszubreiten.

Einen ersten Hinweis auf Papier aus Mumienbinden findet sich bei Joel Munsell im Jahr 1876. Munsell war ein überaus produktiver Drucker und Verleger in Albany, New York, der mit Leidenschaft sämtliche greifbaren Zeitungsartikel über Papier und Papierhandel zusammensammelte und diese schliesslich zu Chronologietafeln zusammenstellte. Dort findet sich zum Jahr 1856 folgender Eintrag: „Der Syracuse Standard brüstet sich, dass seine Ausgabe auf Papier gedruckt sei, dessen Lumpen direkt aus dem Land der Pharaonen kämen. Von diesen wird gesagt, dass sie von Mumien abgezogen worden seien“ .

Dard Hunter

Breitenwirkung erlangte die Geschichte aber erst, als sie Dard Hunter 1947 in der zweiten, erweiterten Ausgabe seines Klassikers „papermaking“ aufgriff. Hier widmete Hunter dem Papiere aus Mumienbinden ein ganzes Kapitel. Dard Hunter gelang es, weitere Quellen hinzufügen, die meist auf mündlichen Überlieferungen basierten. So berichtete Dard Hunter, er habe von einem gewissen Daniel Stanwood gehört, dass dessen Vater 70 Jahre zuvor Lumpen aus Ägypten bezog. Diese seien von Mumien gekommen und davon gleich ganze Schiffsladungen voll.

In einem anderen Fall berichtet Dard Hunter, dass er von Mrs. John Ramey erfahren habe, dass ein Freund ihres Vaters 40 Jahren zuvor erzählt habe, dass dieser wiederum in seiner Jugend (1855-1860) in einer Papierfabrik arbeitete, die Mumienbinden verarbeitete. Dabei würden die als  „Kokon“ bezeichneten Mumienbinden immer wieder in ihre alte Form zurück springen.

Dr. Isaiah Deck

Die wichtigste Quelle aber, die Dard Hunter anführen und der wissenschaftlichen Welt vorstellen konnte, waren die Berichte von Dr. Isaiah Deck. Der Geologe reiste Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach Kleopatras Smaragdminen nach Ägypten. Doch was er fand, waren keine Minen, sondern Mumien: «In der Tat sind an manchen Orten, abseits der von Reisenden für gewöhnlich gewählten Wege, Mumien so zahlreich, dass sie nach den periodischen Stürmen über ganze Äcker aus dem Sand enthüllt zu sehen sind, und erhaltene Teile und Gliedmassen offen in solcher Hülle und Fülle herumliegen, dass ein Wanderer die Idee aufgedrückt bekommt, er befände sich im Atelier Frankensteins, bei florierendem Geschäft». In seinem Bericht kommt Dr. Deck zunehmend ins Fantasieren. Er fährt fort: «der erratische Frank kocht bei einem improvisierten Frühstück seinen Kaffe und ein Zicklein-Steak auf einem aromatischen Feuer, angezündet mit dem gewürzten Busen einer orientalischen Prinzessin.» Das Zitat macht Decks eigenwilliges Verhältnis zu Mumien deutlich. Ihm geht es nicht einfach um das Bestaunen antiker Mumien. Er will sie auch nutzen und denkt an weit grösseres, als mit Hilfe von Mumienteilen Feuer anzuzünden. Er sieht in ihnen den Ausweg aus dem Engpass an Rohstoffen, an dem die amerikanische Papierindustrie in der Mitte des 19. Jahrhundert litt. Bis anhin wurde Papier fast ausschliesslich aus Lumpen hergestellt. Doch seit der Erfindung der Papiermaschine und dem damit exponentiell ansteigenden Papierverbrauch war der Lumpenmarkt ausgetrocknet. Die Europäer, bisher Hauptlieferanten der gebrauchten Textilien, behielten ihre Lumpen für ihre eigene Produktion zurück. Dr. Deck begann zu rechnen: Geht man von einer gleichmässigen Besiedlung des Niltals im Zeitraum von dem Bau der Cheops-Pyramiden bis zur römischen Zeit aus, was etwa einer Durchschnittsbevölkerung von 8 Mio. Menschen über 2000 Jahre entsprechen würde, so ergäbe sich bei einer angenommenen durchschnittlichen Lebenserwartung von 32 Jahren ein Potential von rund 500 Mio. Menschen. Da diese aufgrund religiöser, politischer und hygienischer Bedingungen dafür sorgen mussten, dass ihr Körper auch nach dem Tod unversehrt blieben und dafür durchschnittlich 13,6 kg Leinenbinden verwendeten, so errechnete Deck ein Potential von rund 2,5 Mio. Tonnen Leinen, das im Wüstenstand schlummern müsste und  Amerikas Lumpenbedarf für 15 Jahre decken könnte.

Dr. Isaiah Deck sah in seinem Bericht nicht nur die Mumienbinden als Rohstoffquelle, er sah auch für die verbleibenden Mumien gute Nutzungsmöglichkeiten: Die zur Einbalsamierung verwendeten Bitumen liessen sich zu Maschinenöl destillieren, Alkali und Soda extrahieren, die Knochen zu Aktivkohle und Dünger umwandeln. Für Leim- oder Gelatinegewinnung seien die organischen Reste zu trocken, doch würden sie sich laut Deck für die Seifenherstellung eignen. Nicht zu verachten seien schliesslich die in den Mumien zu findenden Artefakte, die für Antiquitätenhändler und Kuriositätensammler nicht uninteressant sein dürften. Ganz zu schweigen von Silberanhängern, die ausnahmslos auf den toten Körper gelegt und mit einbalsamiert würden, argumentierte Deck.

Decks Bericht war reine theoretische Spekulation. Andere hingegen gingen handfester vor. Jedenfalls  schrieb 1856 der Syracuse Daily Standard: Ein Geschäftsmann aus Onondaga County (New York, USA), ein Anhänger des «Golden Eagle» und nicht des ägyptischen Ibises, brachte ein «Papier aus Mumienbinden» auf dem Markt. Drückt etwas die Zweckmässigkeit unserer Zeit und den unglaublichen Materialismus Amerikas besser aus? Mit äusserstem Materialismus, der mitten durch die Gefühle, Ideologien und Gebräuche der Welt schneidet, sieht dieser Amerikaner nur Fasern in allen mumifizierten Toten Ägyptens. Weder kennt noch akzeptiert er moralische Werte, politische Meinungen, künstlerische Vorstellungen oder historisches Interesse an den erhaltenen und gesammelten Generationen von Fürsten, Kriegern, Architekten und Mechanikern der führenden Nation der Alten Welt. Er will ihre Fasern und nichts als ihre Fasern. Er würde Kleopatras  Leichentuch genauso schnell durch eine Papiermühle lassen, wie das Hemd der Winnebagos [amerik. Indianerstamm]. Ein Pharao wäre ihm nur so viel Wert wie entsprechend viele Ries «demy-», «commercial Post-» oder «Satin Note»-Papier [amerik. Papiersorten]. Er würde ihn weder nach den ersten Sklaverei-Flüchtlingsgesetzten, noch nach Granitquadern am Nil oder den Pyramiden fragen. Er würde ihn barsch um seine Fasern bitten und ihn darüber informieren, dass seine Mühle brach liegt, während dieser die Verarbeitung seiner Fasern verzögere. Wenn Potifars [bibl. Gestalt des AT] Frau ihm säuselnd ein Geständnis in sein Ohr wispern würde – er würde sie harsch unterbrechen: «Ihre Fasern, Madam, wenn ich bitten darf, meine Mühle liegt brach!»

Die Reaktionen

Hunter löste durch sein Kapitel und den Verweis auf Deck eine bis zur Gegenwart heftig geführte Debatte aus. Vor allem die nüchtern-emotionslose, an die Judenverfolgung im Dritten Reich erinnernde Kalkulation von Dr. Isaiah Deck liessen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der historischen Belege aufkommen. Zahlreiche Wissenschaftler zweifeln zudem an der Zuverlässigkeit der mündlich überlieferten Aussagen der angeblichen Zeitzeugen, die von Hunter in seinem Buch aufführt wurden. Die rein mündlichen Überlieferungsketten umfassten schliesslich mindestens drei Glieder und überbrückten Zeiträume von über 100 Jahre. Selbst Dard Hunter musste eingestehen «It is possible that the actual use of mummy wrapping by Standwood for papermaking was an outgrowth of the suggestions set by Dr. Deck in 1855.»

An der Hauptkritik an Hunters Glaubwürdigkeit ist Dard Hunter aber selber Schuld. Er schrieb: «In 1855 […] a New York scientist, Dr. Isaiah deck, compiled a manuscript […]» und später «In his manuscript Dr. Deck lays further stress on […]», ohne bibliographische Hinweise auf die zitierte Quelle zu geben. Dieses Manuskript liess sich aber weder im Nachlass von Dard Hunter, noch in seinem von ihm gegründeten Museum ausfindig machen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern, allen voran Joseph A. Dane, zogen daher die Zuverlässigkeit besagter Textstellen in Zweifel, zumal auch von dem Mumienpapier, auf das der Syracuse Standard hinwies, trotz aller Bemühungen kein Bogen gefunden werden konnte. Selbst Dard Hunter konnte kein Papier ausfindig machen, obwohl er selber dies immer wieder versuchte.

Die Gegenreaktion

Allen Verschwörungstheorien zum Trotz gibt es Decks Bericht aber wirklich. Allerdings handelt es sich nicht um ein Manuskript, sondern um einen publizierten Artikel. Er erschien 1855 in den Transactions of the American Institute of the City of New-York, for the year 1854, und ist unterdessen online abrufbar. Auch die Frage nach den Mumienpapieren für Zeitungen wurde neu aufgerollt. Nicholson Baker fahndete ausführlich für sein Buch «Double Fold». Der journalistisch aufgezogene, aber gut recherchierte Krimi, in dem Baker den Leser mit auf die Suche nimmt, lässt bis zu letzt offen, ob es ihm gelungen ist, ein Stück Mumienpapier in die Hände zu bekommen. Er schliesst jedenfalls das Kapitel mit den wenig aussagekräftigen Worten «Die Seiten der «Mumienausgabe» des Daily Standard rascheln, wenn man sie umblättert».

Der letzte Beweis

Lange Zeit blieb die Beweislage also ungewiss. Im Februar 2010 legte nun die amerikanische Bibliothekarin S. F. Wolfe einen neuen Beleg auf den Tisch: 1859 brachte die damals grösste Papierfabrik Amerikas, die Chelsea Manufacturing Company in Norwich, Connecticut, ein Werbeblatt zur 200-Jahrfeier der Besiedelung Norwichs heraus. Auf diesem Werbeblatt ist zu lesen: «The material of which [this paper] is made, was brought from Egypt. It was taken from the ancient tombs where it had been used in embalming mummies.» Dieses Blatt, von dem Mrs. Wolfe zwei Exemplare ausfindig machen konnte, ist bisher der einzige bekannte und zugängliche Beleg für ein Papier, welches aus Mumienbinden hergestellt worden sein soll.

Mumien als Handelsware

Die Diskussion um das Mumienpapier hat gezeigt, wie emotionsgeladen Themen sind, in denen die sterblichen menschlichen Überreste vergangener Hochkulturen aufgegriffen werden. Allen ethischen Werten und Kritikpunkten zum Trotz, lässt sich an einem Punkt nicht rütteln: an unserem eigenen Umgang mit ägyptischen Mumien während der letzten  400 Jahre. Bereits in einem der ersten grossen Geschichtsbücher über das Alte Ägypten, der Histoire ancicenne des Egyptiens, des Carthagoinois, des Assyriens von Charles Rollin (1730), ist zu lesen, dass tagtäglich Mumien aus Ägypten abtransportiert und in europäischen Wunderkammern zur Schau gestellt wurden. Apothekengefässe, Rezepturen und Apothekertaxen machen deutlich, dass früher gepulverte ägyptische Mumien zu Heilzwecken verkauft und u.a. gegen Altersbeschwerden, Asthma, Ohren- und Halsschmerzen eingesetzt wurden. Dass es sich dabei nicht um ein Nischenprodukt handelte, zeigt der erstaunlich geringe Preis, den man damals dafür verlangte – vergleichbar etwa mit schwarzem Pfeffer. Die Enzyklopädie von Krünitz (1773–1858) rechnet zudem vor, dass bis zu zwei Tonnen pro Jahr importiert wurden, auch wenn der Höhepunkt des Mumienhandels bereits überschritten gewesen sein dürfte. Selbst 1924 konnte man sich noch bei dem Darmstädter Pharmakonzern Merck für 12,– Reichsmark pro Kilo echte ägyptische Mumie nach Hause schicken lassen.

Fazit

Die beliebte Anekdote ist zu einem heiss umstrittenen Meinungsstreit geworden. Betrachtet man den Sachverhalt hingegen nüchtern, ist auffallend, dass sich alle auf Amerika bezogenen Belege auf ein sehr enges Zeitfenster stützen: auf die Jahre um 1855/56. Genau zu dieser Zeit wurden erstmals Lumpen aus Ägypten nach Amerika importiert, um weitere Rohstoffquellen aufzutun. Die in diesen Jahren in mehreren Zeitungen geführte Diskussion um die Verwendung von Mumienbinden für die Papierherstellung und das zeitgleiche Aufkommen ägyptischer Lumpen dürfte die eine oder andere mündliche Überlieferung beeinflusst haben. Viele Details sind unstimmig: die anfänglich erwähnte Cholera-Epidemie, die durch die Mumienbinden ins Land geschleppt worden sein soll, hat sich als Legende erwiesen – der Cholera-Erreger ist ein Bakterium, das kaum tausende Jahre in Trockenheit überleben kann. Als wirklich existierender Beleg konnte bisher nur ein einziges Papier vorgelegt werden, dessen Aufdruck zumindest behauptet, dass dieses Papier aus Mumienbinden hergestellt worden sei. Äusserlich lässt sich kein besonderes Merkmal ausmachen. Eine chemische Untersuchung wäre nun spannend…